16. Februar 2017

Dial M for Mother

Hitchcocks Mütter 

»When I was just a little boy, I asked my mother, ›what will I be?‹«

Emma Jane Hitchcock (1863-1942)

»Als Hitchcocks Vater vierzig wurde, ging es mit seiner Gesundheit bergab. Das führte dazu, daß die Mutter noch dominierender wurde, als es in East-End-Familien ohnehin üblich war. Unausweichlich wurde Alfreds Mutter zum Zentrum im Leben des Jungen, wobei Mrs. Hitchcock ihr jüngstes Kind mit übergroßer Zärtlichkeit umgab, aber auch mit einer zu dieser Zärtlichkeit heftig kontrastierenden Strenge, die ihrem irisch-katholischen Hintergrund entstammte.« (Donald Spoto: »Alfred Hitchcock – Die dunkle Seite des Genies«)

Emma Newton in »Shadow of a Doubt« (1943)

Die glückliche Glucke ... »Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder, und herrschet weise im häuslichen Kreise.« Fast scheint es, als hätte Schiller in seinen Versen Emma Newton (Patricia Collinge) vorausgeahnt. Ist es ein Zufall, daß diese Verkörperung seelenvoller Fürsorglichkeit denselben Vornamen trägt wie die Mutter des Regisseurs? Die Fixierung auf den Familienverband kann jedoch, wie in Emmas Fall, zu einer (beinahe) fatalen Blindheit für die Schrecken der Welt führen.

Madame Sebastian in »Notorious« (1946)

Die Über-Mutter ... Madame Sebastian (Leopoldine Konstantin), Musterbild eisiger Höflichkeit und eiserner Disziplin, bildet sich ein, alles besser zu wissen als ihr Sohn Alex, ein Mann in den (freundlich gesagt) besten Jahren. Bittere Ironie: Sie weiß es wirklich besser. Als Alex sich einmal, wohl zum ersten Mal in seinem Leben, über den Rat der alten Dame hinwegsetzt und seinen Gefühlen folgt, ist er dem Untergang geweiht. Auch Mutters über Leichen gehende Berechnung kann ihm da nicht mehr helfen.

Mrs. Anthony in »Strangers on a Train« (1951)

Die Mutter des Mörders (I) ... Um ihrer psychischen Störungen Herr zu werden, verfertigt Mrs. Anthony (Marion Lorne) Bilder, die an die Werke der Künstler von Gugging erinnern. Ihrem Sohn Bruno ist dieses gesellschaftsfähige Mittel der nervlichen Entlastung nicht gegeben. Er läßt seinen Dämonen anderweitig freien Lauf.

Jessie Stevens in »To Catch a Thief« (1955)

Die lustige Witwe ... Jessie Stevens (Jessie Royce Landis), bodenständige Mutter der gezierten Blondine Frances (»Oh, mother!«), hinterbliebene Gattin eines verstorbenen Selfmade-Millionärs, adoptiert kurzerhand den idealen Schwiegersohn, einen retirierten Juwelendieb, der willkommene Aufregung in ihr langweiliges Jet-Set-Leben bringt. Am Ende liegt, bei aller mittelmeerblauen Heiterkeit, eine gewisse Bedrohung über der Zukunft des sich findenden Paares: Mutters immerwährende Anwesenheit.

Jo McKenna in »The Man Who Knew Too Much« (1956)

Das singende Muttertier ... Anders als Emma Newton hat Jo McKenna (Doris Day) einen Instinkt für Gefahr, und sie ist so klug, diesem Instinkt zu vertrauen. Wie eine Löwin kämpft sie um das Leben ihres verschleppten Jungen. Sie kämpft mit dem Mittel, das ihr von der Natur gegeben ist: mit ihrer Stimme. Rettung bringt ein Kinderlied, dessen naiven Fatalismus (»Que sera, sera«) Jo für sich und die Ihren nicht gelten läßt.

Midge Wood in »Vertigo« (1958)

Die mütterliche Freundin ... Mit den Worten »Oh now, Midge, don’t be so motherly!« läßt der unter Höhenangst leidende, einem morbiden Liebeswahn verfallene John ›Scottie‹ Ferguson die zärtliche Besorgnis seiner altvertrauten Gefährtin (Barbara BelGeddes) abblitzen. In der Stunde größter Verzweiflung wird Midge ihm zur pietàhaften Trösterin (»Mother is here.«), ohne daß freilich ihre Stimme den unglücklichen »Sohn« noch erreichen könnte.

Mrs. Thornhill in »North by Northwest« (1959)

Die Mutter als ewige Zweiflerin ... Es gibt Alpträume, die von der Unfähigkeit handeln, eine einfache Tätigkeit auszuführen, etwa eine bestimmte Telefonnummer zu wählen. Roger O. Thornhill befindet sich in einer ähnlichen, doch ungleich bedrohlicheren Situation: Es gelingt ihm nicht, seine Mutter davon zu überzeugen, in Lebensgefahr zu schweben. Mrs. Thornhill (Jessie Royce Landis) kann über die Ängste ihres Sohnes nur lachen: »You gentlemen aren’t really trying to kill my son, are you?«

Mrs. Bates in »Psycho« (1960)

Die Mutter des Mörders (II) ... »A boy’s best friend is his mother.« Ein Fall von gespaltener und zugleich verdoppelter Persönlichkeit, eine Verbindung auf Leben und Tod. Zwischen dem kauzigen Motel-Betreiber Norman und der unheimlichen Mrs. Bates besteht die wohl innigste wie auch destruktivste aller von Hitchcock beschriebenen Mutter-Sohn-Beziehungen: »Mother! Oh God, mother! Blood! Blood!«

Lydia Brenner in »The Birds« (1963)

Die eifersüchtige Mutter ... Als sich ihr Sohn Mitch in ein flatterhaftes Society-Girl verliebt, reagiert Lydia Brenner (Jessica Tandy) gereizt. Nicht so sehr, weil sie den unangepaßten Lebensentwurf des Mädchens mißbilligte, sondern weil sie fürchtet, den Anschluß an und damit die Kontrolle über ihre Nächsten zu verlieren. Während die Welt unter die Fittiche des Bösen gerät, stemmt sich Lydia gegen ihr Schicksal als Mutter: »I don’t want to be left alone.«

Bernice Edgar in »Marnie« (1964)

Die Mutter als offene Wunde ... Alles, alles würde Marnie tun, um die Liebe ihrer Mutter zu erringen, zu erzwingen. Tatsächlich tut sie auch fast alles dafür: sie lügt, sie betrügt, sie stiehlt (und bleibt dabei auf ihre Art anständig). Doch zwischen Bernice Edgar (Louise Latham) und ihrer Tochter klafft ein roter Abgrund von Schuld. »Why don’t you love me, Mama?« fragt Marnie verzweifelt. Als sie den Grund endlich erfährt, ist es für die ersehnte Liebe zu spät.

Mrs. Rusk in »Frenzy« (1972)

Die Mutter des Mörders (III) ... Eine freundliche ältere Dame aus Kent, auf Stippvisite im schaurig-gemütlichen Londoner Heim ihres Sohnes. Das Bild der lächelnden Mutter (Rita Webb) hängt über dem Bett, in dem der allseits beliebte Obsthändler Bob Rusk (»Don’t squeeze the goods ’til they’re yours.«) hin und wieder Damenbesuch stranguliert. Oder wie die »great old lady« sagen würde: »Home is the place where, when you have to go there, they have to take you in.«

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