6. Juli 2016

Standbild (9)

Verbrechen

Innen. Arbeitszimmer. Nacht. Entlang der Wände des großzügig dimensionierten Raumes sind offene Regale und verglaste Bibliotheksschränke von unterschiedlicher Abmessung eingebaut. Auf der linken Seite, wo ein gerahmter Durchgang in ein kleines Waschkabinett führt, dienen die oberen Borde der etwa hüfthohen Regale als Standfläche für zahlreiche, aus dunklem Holz geschnitzte, teilweise bemalte afrikanische Figuren und Masken, deren unbewegte Blicke geheimnisvoll und bedrohlich wirken. Rechts, eine kassettierte Flügeltür flankierend, reichen die Fächer, in denen sich, wie auch gegenüber, dicht gedrängt ledergebundene Bücher diverser Formate reihen, bis hinauf zur Zimmerdecke; eine aus dem Regalsockel vorspringende gepolsterte Bank steht als Ablage und Sitzgelegenheit zur Verfügung. An der rückwärtigen Wand ist zwischen zwei hohen, mit einfarbigen Gardinen verhängten Fenstern eine Vitrinenschrank plaziert. Er beherbergt eine umfangreiche Sammlung menschlicher Schädel, die mannigfache Deformationen und Verletzungen, wie Großköpfigkeit oder Einschußlöcher, aufweisen. Genau in der Mitte des Raumes, rechtwinklig zu den Fenstern, steht auf einem großen orientalischen Knüpfteppich der Schreibtisch, ein wuchtiges Möbelstück im Stil der Neorenaissance, dessen schwere Platte auf quaderförmigen, mit reliefartigen Ornamenten reich verzierten Seitenteilen ruht. Die rechteckigen Flächen zweier schlichter Beistelltische mit verchromten Stahlrohrgestellen bieten Platz für eine Schreibmaschine und einen Selbstwählfernsprecher aus schwarzem Bakelit. Der Schreibtisch selbst ist fast vollständig bedeckt mit Papieren und Ordnern, Kladden und Bücherstapeln, dazu gesellen sich flache Schalen, diverse Fläschchen, exotische Skulpturen, eine dekorative Schreibgarnitur, ein Ständer für großformatige Glasdias sowie die einzige sichtbare Lichtquelle im Raum, eine Leselampe, deren mattweißer, aus mehreren ineinandergeschobenen Kugelabschnitten bestehender Schirm an einem gebogenen Messingrohr hängt. An den beiden Längsseiten des Tisches steht jeweils ein brokatbezogener Armlehnstuhl. Links sitzt ein soignierter Mann von fünfzig Jahren, der ein dezent gemustertes Jackett, ein weißes Hemd mit Kläppchenkragen und eine gepunktete Seidenkrawatte trägt. Sein schütteres graues Haar ist sorgfältig gescheitelt, die Augen sind düster umschattet, scharfe Falten durchziehen Wangen und Stirn. Vor diesem Mann, einem namhaften Nervenarzt, liegen die handschriftlichen Aufzeichnungen eines kürzlich verstorbenen Patienten, minutiöse Planungen für teuflische Verbrechen, Verbrechen, die, wie es im Manuskript heißt, niemandem Nutzen bringen, die nur den einen Sinn haben, Angst und Schrecken zu verbreiten. Der Arzt starrt mit leicht vorgeneigtem Oberkörper wie hypnotisiert auf die ihm gegenübersitzende halbtransparente Erscheinung des Verfassers der maßlosen kriminellen Projekte. Der glotzäugige Geist des zu Lebzeiten ebenso machtgierigen wie raffsüchtigen Schurken steht im Begriff, den Körper des willenlosen Arztes in Besitz zu nehmen und mit seiner unbändigen zerstörerischen Energie zu erfüllen, damit dieser die verderbenbringenden Vorhaben des Toten in die Tat umsetze.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen