27. Juni 2014

Standbild (3)

Eisenbahn

Innen. Zugabteil. Tag. Es handelt sich um ein Abteil erster Klasse mit zwei einander gegenüberstehenden, dunkel bezogenen Polsterbänken, die von halbrund vorge­wölb­ten Kopfstützen und schwebenden Armlehnen in jeweils drei Sitzplätze aufgeteilt werden. Die oberen Bereiche der Rückenpolster sind mit weißen Tüchern bespannt, auf denen flache quadratische Kissen hängen. Paneele aus ockerfarbenem Eichenholzimitat dienen als Wandverkleidung. Links und rechts vom Abteilfenster, dessen Scheibe von einem dunkelbraunen Metallprofil mit abgerundeten Ecken gerahmt wird, hängen cremefarbene Gardinen. Unterhalb des Fensters sind, zwischen zwei senkrecht gestellten Klapptischen, der Drehregler für die Heizung und ein Abfallbehälter angebracht. Im Abteil befinden sich insgesamt vier Personen. Auf dem rechten Gangplatz sitzt ein alter, weißhaariger Mann in dunklem Anzug, mit hellblauem Hemd und geometrisch gemusterter Krawatte. Sein Mund ist geöffnet. Er spricht zu einem am Fenster stehenden Mädchen von zehn oder elf Jahren. Es trägt ein rotes Dirndl mit weißen Puffärmeln und einer schwarzen, auf dem Rücken gebundenen Schleife. Die blonden Zöpfe des Kindes fallen nach vorne über die Schultern. Die Hände gegen das Glas der Scheibe gepreßt, sieht das Mädchen hinaus in die vorbeiziehende Landschaft, die sich folgendermaßen in die Tiefe staffelt: zunächst ein Streifen Grünland, der, parallel zur Bahnstrecke, von einer Schnellstraße durchschnitten wird, dahinter ein breiter, von zahlreichen Schiffen befahrener Fluß, entlang der anderen Uferseite ein bewaldeter Höhenzug, auf dessen Gipfeln sich pittoreske Burgen erheben. Den rechten Fensterplatz besetzt eine etwa dreißigjährige rothaarige Frau in einem luftigen weißen Kleid. Sie betrachtet, geheimnisvoll lächelnd, die ihr gegenübersitzende Reisende, eine auffallend elegante Dame von schätzungsweise 35 Jahren. Zu Füßen der Dame liegt ein herabgefallenes Magazin mit dem Titel ›Schöne Welt‹. Aus den offenen Spitzen ihrer hochhackigen Riemchenschuhe leuchten rotlackierte Zehennägel. Die Dame ist in ein Kostüm aus weißem Satin gekleidet, eine exquisite Kombination aus wadenlangem, plissierten Rock, schlichtem, körpernahen Top und weit geschnittener Jacke mit eckigem Revers und mehrfach umgeschlagenen Ärmeln. Um den Hals trägt sie ein doppelreihiges Perlencollier sowie ein dünnes Kettchen, an dem ein Schmuckstück in Form eines Fisches hängt. Die Dame hält ihren Kopf seitlich gesenkt, ihre Augen sind halb geschlossen, um ihr zartes, dezent geschminktes Gesicht fällt in sanften Wellen schulterlanges, sorgfältig gescheiteltes, goldblondes Haar. Ihre Arme sind angewinkelt, wobei die linke Hand auf dem flachen Bauch liegt, den die rechte mit dem darübergezogenen Seitenteil der Jacke bedeckt. Die Dame verbirgt eine tödliche Verletzung vor ihren Mitreisenden, eine Stichwunde, die ihr wenige Stunden zuvor von ihrem eifersüchtigen Gatten mit einem goldenen Brieföffner beigebracht wurde, nachdem er die Liaison seiner Frau mit einem Zugkellner entdeckt hatte. Langsam innerlich verblutend, blickt die Dame aus dem Abteilfenster, ohne zu ahnen, daß in einem draußen vorbeirasenden Taxi ihr Ehemann und Mörder sitzt.

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