20. Mai 2014

Unheimliche Heimat

Buch | »Nachkriegskino« von Gerhard Bliersbach (2014)

Der westdeutsche Nachkriegsfilm genießt keinen guten Ruf. Der außerordentliche Erfolg beim Publikum – 1956, als in der Bundesrepublik über 800 Millionen Kinokarten verkauft wurden, lag der Marktanteil heimischer Produktionen bei fast 50 % – hat sich für das »Schnulzenkartell« (Alexander Kluge) imagemäßig nicht bezahlt gemacht: Rezensenten, sowohl den schöngeistigen Feuilletonisten als auch den ideologiekritischen Jungtürken, galten bundesdeutsche Filme von jeher für bieder und gestrig, hastig hingepfuscht oder verstaubt inszeniert von politisch zweifelhaften Routiniers der Ufa-Schule, im internationalen künstlerischen Vergleich hoffnungslos abgehängt, etwa von den kinematographischen Entwicklungen in Italien, Polen oder Japan. Einzelne sehenswerte Werke, von Käutner, Tressler oder Wicki, bildeten danach die Ausnahmen, die die Regeln bestätigten. 1961 veröffentlichte der Journalist Joe Hembus sein Pamphlet »Der deutsche Film kann gar nicht besser sein«, während Walther Schmieding sich unter dem Titel »Kunst oder Kasse« den »Ärger mit dem deutschen Film« von der Seele schrieb, 1962 widmeten Enno Patalas und Ulrich Gregor in ihrer »Geschichte des Films« dem Kino der Ära Adenauer gerade einmal anderthalb Seiten, im gleichen Jahr erklärten 26 Nachwuchsfilmemacher »Papas Kino« für tot. Es dauerte fast 20 Jahre, bis die Gruft geöffnet und das bundesdeutsche Nachkriegskino Gegenstand interessierter – und differenzierter – filmkritischer Betrachtungen wurde: Ulrich Kurowski gab ab 1979 die dreiteilige Materialsammlung »nicht mehr fliehen« heraus, 1980 erschien Christa Bandmanns und Joe Hembus’ »Klassiker des deutschen Tonfilms«, 1987 Claudius Seidls »Der deutsche Film der fünfziger Jahre«, 1989 schließlich, begleitend zu einer Ausstellung über den westdeutschen Nachkriegsfilm im Frankfurter Filmmuseum, der umfangreiche Katalogband »Zwischen gestern und morgen‬«. Einer von jenen, die eine »neue Sicht« auf das Thema eröffneten, war der Psychologe Gerhard Bliersbach mit seinem 1985 publizierten Buch »So grün war die Heide«. Bliersbach erzählte, indem er rund ein Dutzend der bekanntesten Heimat-, Lustspiel-, Kriegs- und Kriminalfilme mit den Mitteln seines Fachs – sehr anschaulich und unterhaltsam – sezierte, eine Mentalitätsgeschichte der jungen Bundesrepublik, er verdeutlichte, am Beispiel von Figuren wie Lüder Lüdersen oder des Gefreiten Asch, von Kaiserin Sissi oder Professor Sauerbruch, die Seelennöte und Schuldgefühle, die Wünsche und Ängste der frischgebackenen Bundesbürger zwischen Nazi-Vergangenheit und Wirtschaftswunder. Mit »Nachkriegskino«, einer »Psychohistorie des westdeutschen Nachkriegsfilms« schließt Bliersbach an das Vorgängerwerk an und erweitert sein Untersuchungsfeld auf etwa 50 Filme aus dem Jahren zwischen 1946 und 1963. Die fünfziger Jahre erscheinen dabei nicht als erstarrte Epoche der Restauration, sondern als bewegte Zeit eines »existenziellen Ringen[s] um die Modifikation und Integration der deutschen Identität in die bundesdeutsche, westdeutsche Identität«. Unter Kapitelüberschriften wie »Beschädigungen«, »Reparaturen«, »Rechtfertigungen«, »Ausbrüche«, »Abrechnungen« forscht Bliersbach dem filmischen Widerhall dieses Transformationsprozesses nach, expliziert die Echos von Traumatisierung und Kränkung, von Schande und Verbrechen, von Beschämung und Selbstschutz. Die Analyse beginnt, nicht ganz konsequent, mit Wolfgang Staudtes »Die Mörder sind unter uns«, der als erster deutscher Nachkriegsfilm unter sowjetischer Lizenz bei der östlichen Defa entstanden war, und endet mit Harald Reinls deutsch-amerikanischem Versöhnungsmärchen »Winnetou«. Um enzyklopädische Vollständigkeit ist es Bliersbach offenkundig nicht zu tun – auf Melodramen geht er so wenig ein wie auf die Exploitationfilme eines Wolf C. Hartwig, fast unbeachtet bleiben Revuefilme und die Werke der (wenigen) Remigranten, im Namensregister fehlen unter anderem Maria Schell und O. W. Fischer, Fritz Lang und Gerd Oswald –; seine persönliche Auswahl konzentriert sich auf jene Filme, deren Schöpfer, zumeist unfreiwillig, Auskunft geben über Fragen von Schuld und Verantwortung in der nationalsozialistischen Gesellschaft, über die psychosozialen Erschütterungen der Nachkriegszeit, über die allmähliche Ausprägung eines bundesrepublikanischen Selbstverständnisses. Bliersbach, der sein (keinesfalls argloses) Vergnügen an vielen der beschriebenen Filme sympathischerweise nicht verhehlt, zieht Verbindungslinien von der Lüneburger Heide ins London der Edgar-Wallace-Reißer, von den Kasernenhöfen der Wehrmacht ins Land der Mescalero-Apachen, er entwickelt seine Hypothesen lesbar und schlüssig, so schlüssig, daß fast der Eindruck entstehen könnte, die Autoren und Regisseure des westdeutschen Nachkriegskinos hätten, freilich unbewußt, gemeinschaftlich an einer großen, wenn auch einigermaßen verdrucksten Erzählung gearbeitet.

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