31. Dezember 2014

Gestalt und Verwandlung

Kino | »Clouds of Sils Maria« von Olivier Assayas (2014)

Dichte Wolken steigen über eine Paßhöhe bei Sils und ergießen sich in schlangenartiger Bewegung talwärts. Vor beinahe einem Jahrhundert hat der Bergfilmer Arnold Fanck das Naturschauspiel mit der Kamera für die Ewigkeit (des Zelluloids) festgehalten. Viel später gab »Das Wolkenphänomen von Maloja« einem hochberühmten Schriftsteller den Titel eines Dramas ein: »Maloja Snake« erzählt die Geschichte einer Frau um die 40, die mit Haut und Haaren einer 18jährigen verfällt und an ihr kaputt geht (wenn sie es nicht schon längst war). Vor gut zwei Jahrzehnten hat Maria Enders (Juliette Binoche) auf der Bühne und im Film den Part der Heranwachsenden gespielt und ist zum Star geworden, nun soll sie in einer spektakulären Neuinszenierung die Ältere verkörpern. Gemeinsam mit ihrer (jungen) Assistentin Valentine (Kristen Stewart) reist Maria nach Sils: Im Haus des mittlerweile verstorbenen Dramatikers will sie sich auf ihre (neue) Rolle vorbereiten – und begegnet dort ihrem früheren (auch von der skandalumwitterten Nachwuchsschauspielerin Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz) personifizierten) Ich, einer hartnäckigen Persona, die Maria (= sich selbst und gleichzeitig eine andere) mit eisernem Griff gefangen hält. Mit Anklängen an Filme wie »All About Eve« oder »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« (und liebevoller Aufmerksamkeit für seine drei erstklassigen Hauptdarstellerinnen) überblendet Olivier Assayas peu à peu die Ebenen – und Antinomien – der Erzählung: die Fiktion eines Stückes und die Lebenswirklichkeit(en) verschiedener Generationen, Vergangenheit und Gegenwart, die Jugend und das Altern, radikale Öffentlichkeit und splendid isolation, das Streben nach Zeitlosigkeit und die Verhaftung in der Zeit. »Wir steigen in denselben Fluß und doch nicht in denselben, wir sind es, und wir sind es nicht«, sagt Heraklit, und Goethe ergänzt: »Denn alles muß in Nichts zerfallen, / Wenn es im Sein beharren will.« Über dem Malojapaß aber sammeln sich wieder die Wolken »… und wundervolles Licht leuchtet noch über den Seen des Engadin.«

17. Dezember 2014

Die Pubertät der Republik

DVD | »Was wären wir ohne uns« von Wolfgang Menge (Drehbuch) und Ulrich Schamoni (Regie) (1979)

»Ein Potpourri in Bild und Ton« nennen die Macher ihre vierteilige Fernsehserie über die Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland. Wie mehrfach betont wird, handelt es sich um eine Rückschau ohne Anspruch auf Vollständigkeit; die jeweils 90minütigen Sendungen präsentieren Stimmungsbilder der Zeit, anekdotisch, ironisch, ein wenig nostalgisch, nicht ganz ohne Nachdenklichkeit. Schauplatz der Revue ist eine Bühne im TV-Studio; man spielt vor Publikum (das sich gelegentlich einmischt). Ein Conferencier (Gerd Vespermann) führt durchs Programm und durch die Jahre von 1950 bis 1953, verbindet die wechselvolle Geschichte einer Normalverbraucher-Figur, des Friseurs Otto F. Baumann (Horst Bollmann), den es nach dem Krieg samt Frau und Tochter (Margret Homeyer und Ute Willing) von Berlin nach Stuttgart verschlagen hat, mit Wochenschauausschnitten, musikalischen Darbietungen eines Orchester und einer Gesangsgruppe sowie szenischen Präsentationen von Konsumprodukten (Ernst H. Hilbich und Evelyn Hamann fungieren als begeisterte Anpreiser der Attraktionen des beginnenden Wirtschaftswunders). Die großen Themen der Zeit – Montanunion und Wehrdebatte, Koreakrieg und 17. Juni – werden schlaglichtartig beleuchtet, im Mittelpunkt stehen die sich wandelnden Lebensumstände der Durchschnittsbürger: von Arbeitslosigkeit und Wohnraumknappheit zu Konsolidierung und Wohlstand. Aus der Perspektive einer Gesellschaft, der die »Grenzen des Wachstums« vor Augen geführt wurden, mag es so erscheinen, »daß diese 50er Jahre doch eigentlich die schönsten waren, die wir erleben durften«. Ob es tatsächlich so ist, stellt der Erzähler der kurzweiligen Geschichtsstunden, bei aller heiteren Besinnlichkeit, diskret zur Diskussion: »Vielleicht ist es sogar so, daß unsere Sorgen von heute erst dadurch entstanden sind, daß wir damals in falsche Richtungen gegangen sind.«

9. Dezember 2014

Studio D: Helga Feddersen

Die dritte Folge der Rubrik »Studio D«, die sich in loser Folge mit Personen und Programmen der deutschen Fernsehgeschichte beschäftigt, erinnert an die Drehbuchautorin Helga Feddersen. Die 1930 in Hamburg geborene Schauspielerin ist vor allem als »Ulknudel« im kollektiven Gedächtnis geblieben, als pferdegebissige Blödelkomödiantin an der Seite von Matadoren der klamottigen Fernsehunterhaltung wie Dieter Hallervorden oder Frank Zander. Daß Helga Feddersen nicht nur die Disco-Parodie »Du, die Wanne ist voll« mitquäkte und in der »Plattenküche« hantierte, sondern auch für Regisseure wie Helmut Käutner und Peter Beauvais, Ottokar Runze und Rainer Werner Fassbinder vor die Kamera trat, ist weitgehend in Vergessenheit geraten – ebenso wie ihre Tätigkeit als TV-Autorin.

Sämtliche Drehbücher, die Helga Feddersen zwischen Ende der 1960er und Mitte der 1970er Jahre verfaßte, spielen in Hamburg oder an der Nordseeküste, alle wurden von der Fernsehspielabteilung des Norddeutschen Rundfunks unter Ägide von Egon Monk und seinem Nachfolger Dieter Meichsner realisiert. Man könnte ihre Arbeiten als »dokumentarische Volksstücke« beschreiben, als »Chronik der laufenden Ereignisse« aus dem Leben der kleinen Leute an der Waterkant.

Die Texte werden durch knappe filmographische Angaben ergänzt:
R Regie K Kamera A Ausstattung S Schnitt P Produktion D Darsteller | Länge | Datum der Erstausstrahlung

Vier Stunden von Elbe 1

Helga Feddersens erstes Fernsehspiel hat zwei erzählerische Achsen: ein Haus, das Seemannsfrauenheim in Brunsbüttelkoog (vier (See-)Fahrtstunden vom Feuerschiff ›Elbe 1‹ entfernt gelegen), und einen Mann, den ledigen Schiffskoch Gustav Andresen. Das Haus, geleitet von Gustavs patenter Schwägerin Klara wird zur Transitstation zahlreicher, schlaglichtartig beleuchteter (Frauen-)Schicksale; der Mann beschließt, aus seiner maritimen Beziehungslosigkeit auszubrechen, indem er, während eines dreiwöchigen Landgangs, per Annonce eine »verständnisvolle Partnerin« fürs Leben sucht. Helga Feddersen – die sich die (Neben-)Figur der Lore Elvers, einer von der Liebe immer wieder enttäuschten Junggesellin, auf den Leib geschrieben hat – zwängt ihre Figuren nicht in das Korsett einer funktionalen Dramaturgie, sie nimmt die Position der Beobachterin und Zuhörerin ein, registriert neugierig, aber ohne Sensationslust, das Reden und Handeln, das Zagen und Hoffen der Charaktere, die durch die liebevolle Betrachtung große Unmittelbarkeit gewinnen. Eberhard Fechner, der das Drehbuch nimmt wie ein Dokument, und sein Kameramann Rudolf Körösi spüren sensibel den Attitüden, Tonlagen und Gemütsverfassungen dieser Menschen nach, der Seemannsfrauen, die an den ewigen Trennungen still oder heulend verzweifeln, der Oma, Mutter, Tante und Gattin eines frischgebackenen 3. Offiziers, die für ihren Goldschatz vor lauter Stolz schon vorab die Kapitänstressen kaufen, der alten Muttchen, die im Heim Nachtwache halten, nicht zuletzt des bindungswilligen Schiffskochs Gustav, dem immer wieder seine »Berufsfigur« im Weg steht, und der schließlich bei einer alten Bekannten, der herbzarten Kioskbesitzerin Elli, seinen Heimathafen findet.

R
Eberhard Fechner K Rudolf Körösi A Herbert Kirchhoff S Brigitte Kirsche P Egon Monk D Klaus Höhne, Carsta Löck, Helga Feddersen, Elke Twiesselmann, Regine Lutz | 105 min | 7. März 1968

Gezeiten

Szenen zweier Ehen: In »Gezeiten« verfolgt Helga Feddersen einerseits die Geschichte des Schiffskochs Gustav Andresen weiter – der Vater wird und sich (nach langem Zögern) dazu entschließt abzumustern, um zusammen mit seiner Gattin Elli die Gastwirtschaft »Zu Anker« (!) zu eröffnen –, zum anderen erzählt sie von dem (durchaus schwierigen) Zusammen- und Getrenntleben der Bröhans, des notorisch eifersüchtigen Kapitänsanwärters Peter und seiner Frau Yvonne, die als Chemikerin in einem Zementwerk arbeitet. Wiederum verkneift sich Feddersen jede Seefahrerromantik, schildert unsentimental-humorig Alltag und Arbeit der Fahrensleute, etwa die schadenfreudigen Ausbildungsinitiationsriten oder die frotzelige Kumpanei der »Kolonne Freß«. Das Seemannsfrauenheim, mittlerweile von Lore – die Zuneigung zu dem netten holländischen Schiffer Henk gefaßt hat – betrieben, gerät aus dem Fokus der Erzählung: Die kaleidoskopische Milieustudie weicht einer doppelten Beziehungsdramödie, die auch herbe Schicksalsschläge nicht ausspart. Die Autorin und der Regisseur Eberhard Fechner bewahren dabei, zu Wasser und zu Lande, ihre sympathetische Beobachtungsschärfe und ihre Freude am charakteristischen Detail.

R Eberhard Fechner K Rudolf Körösi A Herbert Kirchhoff S Wolfgang Skerhutt P Dieter Meichsner D Klaus Höhne, Elke Twiesselmann, Vadim Glowna, Verena Buss, Helga Feddersen | 90 min | 22. Februar 1970

Joachim Hess inszenierte 1971 Helga Feddersens Fernsehspiel »Sparks in Neu-Grönland«, die Geschichte des bärbeißigen Herrn Spark (Robert Meyn), eines Hamburger Kaufmanns im Ruhestand, der auf Drängen seiner Familie in eine Vorstadtsiedlung gezogen ist und nichts lieber möchte, als in seine alte Gegend zurückzukehren. Danach schloß die Autorin ihre »Waterkant-Trilogie« ab.

Im Fahrwasser

Der ehemalige Schiffskoch Gustav Andresen fühlt sich wie ein »fish out of water« – der tonnenschwere alte Anker, der vor seiner Gastwirtschaft als Werbezeichen plaziert wird, erscheint wie ein Symbol von Bedrückung und Sehnsucht. Mißmutig untersagt Gustav seiner Frau Elli die Feiern zum dreijährigen Bestehen des Lokals: »Ich feier keinen Jahrestag für an Land.« Auch Lore, mittlerweile mit dem Frachterkapitän Henk van der Meyden verheiratet und auf Fahrt gegangen, hat Probleme: Henks grimmige Mutter weigert sich partout, dem (nicht mehr ganz so) jungen Paar das Kommando zu überlassen. Helga Feddersen schildert diese Anpassungsschwierigkeiten mit gewohnter Aufmerksamkeit für Befindlichkeiten und Zwischentöne, doch das Klima der Erzählung wirkt zunehmend rauher, in die heitere Betrachtung der Dinge des Lebens mischt sich immer wieder Melancholie. Regisseur Georg Tressler greift den dokumentarisch inspirierten Inszenierungsstil der beiden Vorgänger auf und zeigt, wie die einzelnen Lebensläufe – nach mancherlei Driften und Strudeln – schließlich ins »Fahrwasser« finden: Gustav wird nach einer letzten, enttäuschenden Heuer endgültig zu Frau und Kind ans Ufer gespült, Lore, die sich nicht ausbooten läßt, erobert beherzt einen Platz in ihrer Bord-Familie.

R Georg Tressler K Wolfgang Zeh A Karl-Hermann Joksch S Elke Düring P Dieter Meichsner D Klaus Höhne, Elke Twiesselmann, Helga Feddersen, Josef Jansen, Tilly Perin-Bouwmeester | 80 min | 25. Dezember 1971

Bismarck von hinten oder Wir schließen nie

»Familie ist die Keimzelle, daraus entsteht alles … Leben und Tod.« – »Ja, ja, nu hör mal auf.« – »Bin ich nu Witwer, oder nich?« – »Ja, ja, bist du« – »Glück und Unglück, das kommt alles aus der Keimzelle.« Von zwei dieser Keimzellen ist in Helga Feddersens beschaulichem Hamburger Kiezreport die Rede: Die Knüppels – Vater: Schaffner bei der Bundesbahn, Mutter: Hausfrau – werden mit der Schwangerschaft ihrer 16jährigen Tochter konfrontiert; die Eltern des Kindsvaters, die Eheleute Dreier, müssen sich – als Besitzer einer kleinen Wäscherei – mit der wachsenden Konkurrenz durch Selbstbedienungswaschsalons auseinandersetzen. Beide Familien leben, ein paar Hausnummern voneinander entfernt, mit Blick auf die Rückseite des Bismarck-Denkmals. Außerdem treten auf: Nutten und Gastarbeiter, Soldaten und Gewerbeschüler, ein philosophischer Lokführer und die stets frohgemute Oma Sorgenfrei. »Hier ist Betrieb, hier geht das Leben rund um die Uhr«, sagt Feddersen, die als Erzählerin einmal kurz ins Bild winkt, über die Gegend zwischen Reeperbahn und Holstenwall, in der sie ihre ineinander verquickten Dramolette aus der Kleinbürgerwelt ansiedelt. Ein unaufgeregter Film über Süßes und Bitteres, über private Sorgen und sozialen Wandel, über das Leben, wie es immer weitergeht: »Bergauf, bergab, zuletzt ins … Naja, aber damit hat es sicherlich noch lange Zeit.«

R Joachim Hess K Frank Banuscher A Mathias Matthies S Karin Baumhöfner D Hans-Jürgen Diedrich, Christa Wehling, Christof Wackernagel, Jutta Wirschaz, Uwe Dallmeier P Dieter Meichsner | 90 min | 1974

Anfang der 1980er Jahre schrieb Helga Feddersen zwei Serien für das Vorabendprogramm des NDR (»Kümo Henriette« und »Helga und die Nordlichter«), dann eröffnete sie ein eigenes Theater in Hamburg, das sie mit großem Erfolg betrieb. Als sie an Krebs erkrankte, mußte sie ihre Bühnentätigkeit beenden. 1990 ist Helga Feddersen in ihrer Heimatstadt gestorben. »Element of Crime« widmeten ihr den Song »Vier Stunden vor Elbe 1«: »Drüben am Horizont verschwindet eine Landschaft. / Ein Schnitt in die Brust ist der Abschied, doch diesmal fällt er aus.«

13. November 2014

Die Unwirklichkeit unserer Städte

Antwerpen, Westberlin, Köln – drei Filme von Ernst Hofbauer

1964 | »Tim Frazer jagt den geheimnisvollen Mister X«

»J’ai péché.« Eine geheimnisvolle Mordserie erschüttert Antwerpen: Alle zehn Tage stirbt ein Hafenarbeiter durch einen Stilettstich in den Rücken. Der überforderte Inspektor Stoffels (Paul Löwinger) erhält Verstärkung aus London: Tim Frazer (Adrian Hoven) stellt fest, daß Opfer und Täter durch Mitgliedschaft in einer Bande von Rauschgiftschmugglern – beteiligt sind unter anderem eine frivole Schankwirtin, eine leopardige Barbesitzerin und der hinkende Konsul von Anatolien – miteinander verbunden sind … Die ausgedehnten Hafenanlagen Antwerpens und die winkligen Straßen der Altstadt bilden die atmosphärische Kulisse für eine (abgesehen von einigen expressiv beleuchteten Nachtszenen, ein paar überraschenden jump-cuts à la Godard sowie zwei visuell recht attraktiven Verfolgungsjagden auf eine Klappbrücke und durch die Röhre des Sint-Annatunnels unter der Schelde) eher behäbig inszenierte Krimiplotte (die mit Francis Durbridges »Tim Frazer«-Romanen nichts zu tun hat); mindestens ebensosehr wie für die Aufklärung der Bluttaten interessiert sich Ernst Hofbauer für weibliche Dekolletés, denen zu dekorativen Folterzwecken schon mal eine glühende Zigarette gefährlich naherückt. Eine gewisse Originalität beweist die Besetzung Ady Berbers: In den Edgar-Wallace- und Mabuse-Filmen auf die Rolle des debilen Schergen abonniert, darf sich der sympathische Wiener Koloß in diesem Falle einmal als tapferer Helfer der Gesetzeshüter beweisen.

1966 | »Schwarzer Markt der Liebe«

»Für eine ausgedehnte Tournee durch den Nahen Osten sucht die Direktion einige gutaussehende Mädchen mit Tanzkenntnissen.« Der alerte Harald von Gröpen (Claus Tinney) und sein flotter Kompagnon Rolf (Rolf Eden) locken gutgläubige Fräuleins in die Falle und verhökern das Frischfleisch an den Meistbietenden – wobei die Abnehmer auch schon mal blutig über den Löffel balbiert werden. Nachdem er sich in Genua lebensgefährliche Schwierigkeiten eingehandelt hat, entwischt Harald nach Westberlin, wo er gutgebauten Nachschub zu organisieren gedenkt … Ernst Hofbauer präsentiert nicht nur die allbekannten Attraktionen der Halbstadt – Europa-Center und Funkturm, Café Kranzler und Kurfürstendamm –, er bietet auch ein indiskretes Röntgenbild ihres verborgenen (und verdorbenen) Innenlebens. Die Handlung des Films, »frei erfunden« nach einem »Tatsachenbericht«, kurvt um diverse weibliche Rundungen, hinterläßt ein paar männliche Leichen, mündet schließlich in eine halluzinatorische Marihuana-Party. Anwesend sind – neben einer (noch) unberührten Blondine – allerlei trübe Gestalten, die verschlagen in die Kamera grinsen: Laura, Seine Exzellenz, Dr. Bergheim, Antoinette, Nicole, Madame Nahid, Mr. Simoni mit Gattin Gertrud sowie die lesbische Gräfin Chodkowski (Tilly Lauenstein), Besitzerin einer Unterwäsche-Boutique und eigennützige Sponsorin der skrupellosen Mädchenhändler. (Es fehlt allerdings Konsul Karbach, der nur dann in Ekstase gerät, wenn vor seinen Augen acht oder zehn weiße Mäuse totgetrampelt werden.) Irgendwie erinnert die ebenso lüsterne wie gefühllose Festgesellschaft an das bizarre Gelichter, das Patrick Modiano in seinen phantastisch-realistischen Pariser Okkupationsromanen beschreibt. Ein Percussion-Solo des Jazzmusikers Toby Fichelscher – im Vorspann »Bongo Tobby« genannt – liefert den frenetischen Sound dieser abgrundtiefen, alptraumgeschwängerten Nacht, die für alle Beteiligten ein böses Erwachen bereithält.

1967 | »Heißes Pflaster Köln«

»Man ist nicht sehr fein im ›Chicago am Rhein‹.« Köln – das bedeutet Dom und ›4711‹, Karneval und Millowitsch. Aber die Stadt hat auch eine andere Seite: Klingelpütz und Bandenkriege, gewerbsmäßige Unzucht und sittliche Verrohung. Da erweisen sich gutkatholische Hausväter als regelmäßige Bordellgänger, da peitschen Ganoven hohnlachend ihre Rivalen zu Tode, da wird ein rechtschaffener Staatsanwalt von Halunken terrorisiert, da foltern sadistische Teenagerinnen ein armes, altes Tantchen mit dem Toaster … Zentralfigur der kriminalistischen Milieustudie ist der proletenhafte Zuhälter Paul Keil (Arthur Brauss), der einerseits mit allen Mitteln die Verurteilung seines unter Mordanklage stehenden Bruders verhindern will, sich andererseits zugewanderter Konkurrenz erwehren muß: Der geleckte Wiener Strizzi Poldi (Walter Kohut) wirbt ohne jede Scheu Straßendirnen für seinen neu errichteten Luxuspuff: »Hier ist alles exklusiv und exquisit.« Geschickt verknüpft Ernst Hofbauer seinen Zug durch die Kölner Unterwelt mit Seitenblicken auf gefallene Mädchen und feige Bürgersöhne, in triste Hinterhöfe und tiefe Ausschnitte. Herbert Fux, Klaus Löwitsch und der fette Eric Pohlmann machen gute Figur in markanten Nebenrollen; Hans Jura, dessen filmpreisgekrönte Kameraarbeit schon Will Trempers ironischem Westberliner Sittenbild »Die endlose Nacht« den authentischen Schliff gab, verleiht auch Hofbauers Sex-and-Crime-Reißer einen kühlen dokumentarischen Anstrich. Zwar bringt der Showdown (wie zu erwarten war) die (vermutlich nur vorübergehende) Wiederherstellung von Recht und Ordnung, doch ein illustriertenmoralischer Schlußkommentar fordert den Zuschauer auf, sich damit nicht zufrieden zu geben: »Könnten wir alle nicht mehr, als wir es tun, dazu beitragen, Auswüchse zu bekämpfen, Verbrechen zu verhindern?«

22. Oktober 2014

Spies and ladies

Zwei Fernsehfilme von Alan Bennett (Drehbuch) und John Schlesinger (Regie) 

1983 | »An Englishman Abroad«

Based on a true event … Moskau, Ende der 1950er Jahre. Das ›Shakespeare Memorial Theatre‹ gastiert in der Sowjetunion. In der Pause einer »Hamlet«-Aufführung betritt ein besoffener Gentleman die Garderobe der Schauspielerin Coral Browne, kotzt in ihr Waschbecken und macht sich unter Mitnahme von Seife, Puder, Zigaretten sowie einer Falsche Whisky wieder aus dem Staub. Der ungebetene Gast ist kein anderer als der MI5-Agent, BBC-Journalist und Foreign-Office-Diplomat Guy Burgess, der wenige Jahre zuvor aus England floh, als seine Tätigkeit für den sowjetischen Geheimdienst ruchbar wurde. Trotz des eher unappetitlichen ersten Aufeinandertreffens entwickelt sich eine von Faszination und Sympathie getragene Bekanntschaft. Browne, die Burgess tatsächlich während einer Tournee in Moskau kennenlernte, spielt sich genüßlich selbst, Alan Bates verkörpert mit sensibler Verve den berühmt-berüchtigten Spion, der sich als Student in Cambrigde dem Kommunismus verschwor und als Gefangener seiner Ideale hinter den Eisernen Vorhang verschlagen wurde. Alan Bennett legt die kurze Begegnung als ironisch-melancholisches Konversationsstück an, er zeigt den Verräter nicht als gewissenloses Scheusal sondern als charmanten Weltverbesserer von der traurigen Gestalt, der im kalten, kleingeistigen Moskauer Grau dem Witz, dem Klatsch, dem Chic seiner bewegten Londoner Vergangenheit nachtrauert. Browne, die als Australierin mit distanziertem Blick auf englische Sonderbarkeiten sieht, findet nichts dabei, daß der Exilierte sich von ihr vermessen läßt, damit sie bei seinem alten Schneider in Savile Row einen Anzug für ihn bestellen kann – schließlich gibt es keinen Grund dafür, daß der Neue Mensch so schlecht gekleidet sein muß wie ein Sowjetbürger.

1991 | »A Question of Attribution«

Based on another true event … London, Ende der 1970er Jahre. Seit geraumer Zeit ist dem britischen Geheimdienst bekannt, daß Sir Anthony Blunt, brillanter Kunsthistoriker und Direktor der königlichen Gemäldesammlung, wie sein Cambridger (Studien-)Freund Guy Burgess aus ideologischer Überzeugung für die Sowjets gespitzelt hat. Aufgrund seiner delikaten Position, mithin um einen royalen Skandal zu vermeiden, hatte Blunt die Zusicherung von Straffreiheit erhalten, wenn er gegenüber den zuständigen Organe absolute Offenheit im Hinblick auf seine Tätigkeit und seine Kontakte walten ließe (was er freilich geschickt zu vermeiden versteht). Alan Bennett kontrastiert die Geschichte des so kultivierten wie undurchsichtigen Verräters mit der Restaurierung eines Tizian-Gemäldes, dessen Bearbeitung immer neue, zuvor verborgene Schichten enthüllt. Die bissig-brillante Studie über Täuschung und Geheimnis findet ihren doppelbödigen Höhepunkt in einem zufälligen (?) Zusammentreffen zwischen Blunt (geistreich-blasiert: James Fox) und der Königin (hintergründig-naiv: Prunella Scales) im Buckingham Palace: ›H.M.Q.‹ verwickelt den eloquenten Gelehrten in eine scheinbar harmlose Konversation über Betrug und Fälschung am Beispiel des abgründigen Bildes von Tizian. Blunt hält das Wort »fake« (auch) in diesem Zusammenhang für unzutreffend. »If something is not what it claims to be, what is it?« fragt die Monarchin, halb amüsiert, halb indigniert. »An enigma?« schlägt der Mann mit den (mindesten) zwei Gesichtern vor. (Nicht nur) mit diesem Dialog gibt Bennett der unvoreingenommenen Betrachtung den Vorzug vor der von vornherein feststehenden Zuschreibung.

20. Oktober 2014

The girl who fell to earth

Kino | »Under the Skin« von Jonathan Glazer (2013)

Sie (Scarlett Johansson) kommt von außerhalb, malt sich die Lippen rot, kurvt in einem Kleinbus durch Schottland, lockt Männer an. Die Männer versinken in einem schwarzwässrigen Urgrund, werden irgendwie zu irgendetwas verarbeitet, hinterlassen ihre leere Hülle. Sie zieht immer weiter, reglos, rastlos, bis sie irgendwann ihre eigene Hülle ablegt und irgendwo in Rauch aufgeht … Science fiction? Vielleicht. Horror? Mag sein. Thriller? Gewissermaßen. Geschlechterforschung? Körperpolitik? Sozialanthropologie? Tja. Hm. Schon. Jonathan Glazer bemüht ähliche Mittel wie ein Jahrzehnt zuvor in »Birth« – irritierende Ellipsen, betonte Retardierungen, enigmatische Figuren, rudimentärer Dialog, minimalistischer Soundtrack, hermetische Erzählweise, (pop-)kulturelle Referenzen –, um mit den Augen eines Aliens auf irdisches Leben und Treiben zu blicken. Viel mehr und viel tiefer als ein (ziemlich stilbewußter) Mensch sieht er allerdings auch nicht.

13. Oktober 2014

Schutt und Asche

Kino | »Phoenix« von Christian Petzold (2014)

»Time is so old and love so brief, / Love is pure gold and time a thief.« Berlin, 1945. Nelly (Nina Hoss) kehrt aus dem Konzentrationslager zurück. Ihr Gesicht ist entstellt. Ihre Seele ist erloschen. Nelly bewegt sich wie eine Marionette durch die Ruinen. Sie sucht sich selbst, sie sucht ihren Mann. Johnny (Ronald Zehrfeld) hat seine jüdische Frau einst vor den Verfolgern versteckt. Vielleicht auch an sie verraten. Nelly und Johnny treffen sich. Er erkennt sie nicht wieder. Johnny will die vermeintlich Fremde in Nelly verwandeln. Er will sich das Vermögen der Totgeglaubten aneignen. Nelly spielt mit. Um bei Johnny zu sein. In der Hoffnung, er begreife die Wahrheit. In der Hoffnung zurückzufinden, zu ihm, zu sich selbst … Im Gegensatz zu J. Lee Thompson, der Hubert Monteilhets Roman »Retour des cendres« 1965 als grotesken Thriller adaptierte, verwandelt Christian Petzold den bizarren Stoff in ein geisterhaftes Melodram über etwas, das gestorben und doch unverwüstlich ist. »Phoenix« ist pure (Kino-)Konstruktion, methodische Figurenaufstellung, klinische Untersuchung von Phänomenen wie Bruch und Dauer, Schuld und Verständnis, Liebe und Zeit. Während Stefan Wills sparsam eingesetzte Musik, die bald noirische Klangschatten wirft, bald melancholisch über ein Thema von Kurt Weill (»Speak Low«) fantasiert, eindringliche Stimmung erzeugt, sind das äußerst reduzierte Szenenbild (das – abgesehen von ein paar dekorativ arrangierten Schutthaufen – weder die konkrete Anschauung einer zerstörten Stadt noch eine Ahnung von den mentalen Verwüstungen des Nachkriegs gibt) sowie die Verkörperung von erschütterten, gezeichneten Menschen durch stets beherrschte, wohlgenährte Darsteller wohl nur im Rahmen einer so extremen Abstraktion zu akzeptieren, wie Petzold sie betreibt. »The curtain descends, / Everything ends too soon, too soon.«

4. Oktober 2014

Eine Welt in der Welt

Kino | »Das große Museum« von Johannes Holzhausen (2014)

»Ein Jahr im Museum« wäre vielleicht der bessere Titel für Johannes Holzhausens Blicke hinter die Kulissen des Wiener Kunsthistorischen Museums. Der Film liefert weniger das gültige Porträt einer traditionsreichen Kulturinstitution als vielmehr mannigfaltige Impressionen aus dem betrieblichen Alltag eines komplexen Gebildes, das gleichermaßen ›wissenschaftliche Anstalt öffentlichen Rechts‹ und glänzendes Aushängeschild der Republik Österreich, labyrinthischer Riesenbau und eine der bedeutendsten Kunstsammlungen der Welt ist. Holzhausen interessiert sich insbesondere für die Menschen, die das Museum durch ihre Arbeit, ihr Naturell, ihre Sachkenntnis, ihr Engagement, ihre Verbissenheit, ihre Ironie, ihren Frust formen und prägen, er folgt den Mitarbeitern des Besucherdienstes (vulgo: Aufsehern), den Restauratoren, den Kuratoren, den Direktoren durch die Säle, Büros, Flure und Keller des Hauses. Schade vielleicht, daß der Autor seine Sympathien dabei filmisch allzu deutlich verteilt – und sonderbar, daß er seine ruhigen Beobachtungen ausgerechnet mit der Hängung von Brueghels »Turmbau zu Babel« beendet: Das Bild von Hybris und Sprachverwirrung – als Schlußpunkt einer (durchaus affirmativen) Dokumentation über eine Stätte, die der historischen Bewußtseinsbildung und dem Dialog verpflichtet ist – läßt den Betrachter einigermaßen ratlos zurück.

22. September 2014

To make the world a better place

Kino | »A Most Wanted Man« von Anton Corbijn (2014)

Nur am Rande erzählt die Adaption des John-le-Carré-Romans von islamistischem Terror und zweifelhafter Philanthropie, von skrupulösen Blutgeld-Bankiers und treuherzigen Menschenrechtlerinnen – es ist letztlich und vor allem das gute alte Double-Triple-Quadruple-Crossing rivalisierender Geheimdienste (und ihrer widerstreitenden Interessen), das Anton Corbijn in ausgewaschenen Farben recht stilvoll inszeniert (auch wenn Herbert Grönemeyers etwas zu aufdringlich pumpernder Score gelegentlich die an Meistern wie Pakula, Pollack oder Zinnemann geschulte Lakonik konterkariert). Hamburg, mit seinen diskreten Backsteinpalästen und abgerockten Rotlichtkaschemmen, liefert die ansprechende Kulisse für das wohlbekannte Spiel, in dem sich vermeintliche Partner als erbarmungslose Kontrahenten erweisen; der Hafen, einst Symbol der Weltoffenheit, erscheint dabei wie ein Umschlagplatz von quälender Ungewißheit und tödlicher Bedrohung. Und Philip Seymour Hoffman, als Chef einer jenseits von Recht und Gesetz operierenden bundesdeutschen Spezialeinheit, fett und teigig, mit Augen, die in Alkohol und Trübsal schwimmen, wirkt wie ein an den schmutzigen Strand des westlichen Sicherheitsdenkens gespülter Wal: lautstark schnaufend, verzweifelt kämpfend, ohne jede Chance unter der längst zerfetzten Fahne der Freiheit.

15. September 2014

Capitale de la douleur

Kino | »Maps to the Stars« von David Cronenberg (2014)

Was auf einer Sternenkarte aussieht, als läge es in dichter Nachbarschaft, ist realiter unvorstellbar weit voneinander entfernt; doch trotz der riesigen Distanzen steht jedes einzelne Objekt in Beziehung zu den anderen. David Cronenberg und Drehbuchautor Bruce Wagner nehmen diese himmlischen Konstellationen als Metapher für zwischenmenschliche Verhältnisse. Los Angeles, die Stadt der Engel, der Olymp der irdischen Götter wird zum haunted place, zur glänzend-monströsen Kulisse für eine weltraumkalte Betrachtung der conditio (in-)humana. Wie in einer antiken Tragödie, wie in einer Wagneroper (oder wie in einem Hollywoodschinken) ist alles in diesem Film bigger than life: der Zynismus und die Falschheit, die Verzweiflung und die Einsamkeit, das Unglück und das Begehren; sämtliche Personen des Dramas (allein die fantastischen Namen – Havana Segrand, Jerome Fontana, Azita Wachtel – weisen die Figuren als exotische Studienobjekte aus) sind in Rollen und Posen erstarrt, wofür sie ausnahmslos dankbar sein dürfen, denn ohne diese Stützkorsetts löste sich ihrer aller Existenz wohl auf wie ein Stäubchen im Feuer. Natürlich verteilt Cronenberg den einen oder anderen Seitenhieb auf die skurrilen Degenerationen des show business und seiner Betreiber, vor allem aber zieht er, mit galliger Ironie, Parallelen zwischen dem manischen Wiederholungszwang der Filmindustrie (Sequels und Remakes) und der Endlosschleife des menschlichen (besser gesagt: menschengemachten) Jammers: eine Tochter (Julianne Moore), die sich um jeden Preis in die verhaßte Mutter verwandeln will, Geschwister (Mia Wasikowska und Evan Bird), die wie ferngesteuert den Inzest der Eltern nachvollziehen – erst im Untergang scheinen diese Verfluchten so etwas wie Freiheit zu finden. (»Sur les marches de la mort / J’écris ton nom.«) »Maps to the Stars« erzählt mit einer Art ungerührtem Mitleid von Schlafwandlern der (Alp-)Traumfabrik, von Toten zu Lebzeiten; der Film gleicht einem schauerromantischen Märchen voller böser Geister, (Feuer-)Teufel und Widergänger, einem surrealen Nachtstück in hellem kalifornischen Sonnenlicht. PS: Wenn schon ein Vergleich mit Billy Wilder sein muß, dann nicht mit »Sunset Blvd.« sondern mit »Fedora«, Wilders melancholischem Spätwerk, das wie Cronenbergs schrecklich-schönes Meisterstück von erzwungener Verdoppelung, von fataler Gefangenschaft, von der Sehnsucht nach Erlösung handelt.

14. September 2014

In next to no time

Drei Filme von Henry Cornelius

Als Sohn deutsch-jüdischer Eltern 1913 in Südafrika geboren, Schüler von Max Reinhardt in Berlin, über Paris nach England emigriert, Mitarbeiter von René Clair und Alexander Korda, Cutter (»Four Feathers«, 1939), Drehbuchautor (»It Always Rains on Sunday«, 1947) und Produzent (»Hue and Cry«, 1947), debütiert Henry Cornelius 1949 als Regisseur: »Passport to Pimlico«, gedreht für Michael Balcons Ealing Studios, gilt als Komödienklassiker des britischen Nachkriegskinos. Cornelius kann nur fünf Filme inszenieren. Er stirbt, noch keine 45 Jahre alt, 1958 in London. 


1949 | »Passport to Pimlico« (»Blockade in London«)

»We’ll show’em! … Only what?« Im heißen Sommer des Jahres 1947 detoniert im Londoner Stadtteil Pimlico ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Explosion erschließt den Zugang zu einer unterirdischen Schatzkammer. Dort findet sich ein jahrhundertealtes Dokument, das die Gegend von Miramont Place zum exterritorialen Gebiet und Besitz des einst aus seiner Heimat vertriebenen letzten Herzogs von Burgund erklärt. Unter dem Motto »This is Burgundy!« pfeifen die Bewohner der Viertels fürderhin auf gesetzliche Rationierungen von Lebensmitteln und Seidenblusen sowie auf die abendliche Sperrstunde im Pub. Dem örtlichen Bobby fällt es wie Schuppen von den Augen: »Blimey! I’m a foreigner!« Henry Cornelius und Autor T. E. B. Clarke schildern in ihrer liebenswürdig-spleenigen Zwergstaatskomödie den zähen Kleinkrieg zwischen den verknöcherten britischen Amtsträgern in Whitehall und den stolzen Abtrünnigen, über die zunächst eine Flut windiger Geschäftemacher hereinbricht, bevor sie seitens der britischen Ordnungsmacht mit einer strikten Blockade belegt werden. Angeführt vom burgundischen Prätendenten, dessen Anrechte von einer schrulligen Historikerin (Margaret Rutherford) bestätigt wurden, sowie von einem zum Premierminister avancierten Gemischtwarenhändler (Stanley Holloway) widerstehen die gewitzten Eingeschlossenen der Belagerung: »Plucky little Burgundy!« Parallelen zur zeitgleich stattfindenden Abriegelung Westberlins durch die Sowjets drängen sich auf, und tatsächlich werden auch die tapferen Bürger von Burgund-Pimlico schon bald durch eine Luftbrücke versorgt … Ein ironisch-paradoxes Hohelied auf Souveränität und Widerstandsgeist, auf eine Gemeinschaft, deren höchstes Gut der brüderliche Eigensinn ist: »It’s just because we are English, that we’re sticking out for our right to be Burgundians.«

1953 | »Genevieve« (»Die feurige Isabella«)

»I don’t know what it is about these silly old cars. The moment people get into them, they start behaving like idiots.« Alle Jahre wieder findet der Veteran Car Run des königlich Automobilclubs statt: von London nach Brighton und zurück. Und wie immer nehmen zwei alte Freunde (und Konkurrenten) mit ihren betagten Fahrzeugen (beide Jahrgang 1904) und jungen Frauen an der Traditionsrallye teil: Alan McKim (John Gregson) mit seinem Darracq (genannt ›Genevieve‹) und Ehefrau Wendy (Dinah Sheridan) sowie Ambrose Claverhouse (Kenneth More) mit seinem Spyker und Freundin Rosalind (Kay Kendall) … Ein Wochenende im Herbst: frische Luft und Abgasgestank, Sonne und Regen, Kameradschaft und Rivalität, Zärtlichkeit und Niedertracht, Streit und Versöhnung. »Genevieve« nimmt das Rennen – das eigentlich keine Wettfahrt ist, aber, aufgrund einer Wette, in eine solche ausartet – zum Anlaß, den verschiedenen Charakteren (wozu auch die beteiligten Oldtimer zählen) freien Lauf zu lassen, ihre Beziehungen zu erkunden, ihre Stärken und Schwächen auszuloten. Henry Cornelius entwickelt die erzbritische Exzentrik dieser von einem Amerikaner (William Rose) geschriebenen Komödie mit französischer Ungezwungenheit – spielerisch bewegt sich das Roadmovie von einer vergnüglichen Situation zur nächsten; und Larry Adlers Mundharmonikaklänge verbinden virtuos die fein abgestuften Stimmlagen dieser überaus charmanten (in bilderbogenbuntem Technicolor fotografierten) romantischen Farce: Nostalgie und Naturalismus, Klamauk und Ironie, schrille Übertreibungen und lyrische Zwischentöne.

1955 | »I Am a Camera«

»I saw him in a café in Berlin, / The kind of place where love affairs begin.« Basierend auf John Van Drutens Theaterstück, das Teile aus Christopher Isherwoods autobiographisch inspiriertem Roman »Goodbye to Berlin« verarbeitet, beschreibt »I Am a Camera« – der Titel zitiert den ersten Satz des Buches – die innig-spannungsvolle Freundschaft zwischen dem zurückhaltend-selbstzweiflerischen Schriftsteller Chris (»Well, I’m sort of working on a general idea.«) und der naiv-übermütigen Bohemienne Sally Bowles (»I was a future film star but in present I’m singing in a night club, at least I was.«) im grauen Berlin des Jahres 1931 (»when the banks close down and the knackwurst is one mark and fifty«). Wirtschaftlicher Niedergang und Aufstieg der Nazis bilden den unscharfen historischen Hintergrund für eine mehr oder weniger turbulente Beziehungsdramödie, die alleine vom furiosen Spiel der Hauptdarstellerin Julie Harris über atmosphärische Unstimmigkeiten und inszenatorische Schwächen getragen wird. Laurence Harveys pralle Haartolle paßt eher zu einem angry young man der Nachkriegsjahre als zum schüchternen (zudem sexuell desorientierten) Intellektuellen Chris, während Henry Cornelius (der Anfang der 1930er selbst in Berlin lebte) erstaunlich wenig geistiges und visuelles Gespür für die Melange aus tiefer Erschütterung und hysterischer Vergnügungssucht zeigt, die das gesellschaftliche Klima der Zeit bestimmte (und die Bob Fosse in »Cabaret«, der Musical-Fassung des Stoffes, so brillant einfangen wird). Auch die gelungenen Momente, etwa eine phantastisch überkandidelte Party-Szene, stimmen weniger froh denn melancholisch, verweisen sie doch vor allem auf die verschenkten Möglichkeiten dieses durchaus ambitionierten Films. »I can’t forget him, I never met him, / I only saw him in a café in Berlin.«

6. September 2014

Er wollte geliebt werden

Wiedergesehen auf VHS | »Wehner – die unerzählte Geschichte« von Heinrich Breloer (1993)

Herbert Wehner, Jahrgang 1906, Schuhmachersohn aus Dresden, in seiner Jugend erst Anarchist (»mit dem schwarzen Punkt im Herzen«), dann Parteikommunist, Protegé von Ernst Thälmann, Moskau-Emigrant, schuldiger Überlebender der großen Säuberungen, vom blutroten Glauben abgefallen, nach dem Krieg Sozialdemokrat, führend beteiligt am Umbau der SPD von der Arbeiter- zur Volkspartei, langjähriger Fraktionsvorsitzender im Bundestag, donnernde Krawalltüte und urteilssichere Mimose, geschickter Kanzlermacher und eisiger Kanzlerentmachter, Diener und Herrscher, Realist und – ja, auch: Träumer. Heinrich Breloer porträtiert die hochgradig faszinierende, extrem zwiespältige politische Jahrhundertfigur Wehner in einem zweiteiligen Film: »Die Nacht von Münster­eifel« leuchtet tief in den Betrieb einer parlamentarischen (und medialen) Demokratie, erzählt von Haßliebe (»Ich lasse mich für dich zerhacken!«) und Abrechnung (»Der Herr badet gerne lau.«) des radikal-cholerischen Taktikers Wehner (Heinz Baumann) zum und mit dem be­wundert-verachteten Strahlemann Willy Brandt; »Hotel Lux« blendet zurück in die prägende Frühgeschichte der Biographie, zeichnet den Weg des jungen Wehner (Ulrich Tukur) vom hitzköpfigen Verfechter der Herrschaftslosigkeit durch die knallharte Schule des Stalinismus in die Abgründe von Terror und Verrat bis zur – nicht wirklich seligmachenden – Abkehr bei letzter Gelegenheit. (»Wer einmal Kommunist war, den verfolgt Ihre gesittete Gesellschaft bis zum Lebensende!« ruft der sichtlich erbitterte Wehner 1975 den johlenden Christdemokraten im Bundestag zu.) Die beiden erzählerisch scheinbar unverbunden neben­einander stehenden und doch raffiniert miteinander verknüpften Teile dieser beispielhaften Geschichtsstunde(n) fügen sich zu dem vielschichtigen Bildnis einer der einflußreichsten und zugleich rätselhaftesten Persönlichkeiten der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Die typische Breloersche Mischung von Interviews (u. a. mit Rut Brandt, Wiebke Bruhns, Klaus Harpprecht, Lotte Loebinger, Ruth von Mayenburg, Greta Wehner, Karl Wienand), dokumentarischem Material und Spielszenen (Schwarzweiß-Kamera: Achim Poulheim / Musik: Hans Peter Ströer) bietet gleichermaßen aufkläre­risches Vergnügen und unterhaltsamen Erkenntnisgewinn.

11. August 2014

Standbild (5)

Liebesdienst

Innen. Salon. Nacht. Sämtliche Lampen sind ausgeschaltet. Der weitläufige Raum wird einzig von dem flackernden Feuer erhellt, das im zentral positionierten Kamin brennt. Im Halbdunkel sind zahlreiche Kunstgegenstände und großbürgerliches Mobiliar auszumachen. Zwei mit weißen Tüllgardinen und schweren dunklen Portieren verhängte Fensteröffnungen an der linken Seitenwand flankieren eine Konsole, auf der ein hoher Altarleuchter steht. Darüber hängen ein kleines Bild und ein Gipsputto. In der linken Zimmerecke lehnen, auf einer Staffelei und auf einem Wandbord, mehrere halbfertige Bilder, die, in skizzenhafter Form, nackte, sitzende Frauen und Männer zeigen. Zwischen diesem Arrangement und dem Kamin steht, auf einem viereckigen Sockel, ein lebensgroßer männlicher Torso mit leicht seitwärts gedrehtem Kopf. Auf der rechten Seiten des Raumes befinden sich eine mehrstöckige Etagere mit einer Sammlung von Nippesfiguren und, unter einem Spiegel mit verschnörkeltem Rahmen, ein Armlehnstuhl sowie ein geschwungener Wandtisch, auf dem zwei silberne Kerzenleuchter und einige dekorative Glasfläschchen und Dosen aufgebaut sind. Rechts auf dem Sims des Kamins, der den Mittelpunkt des Salons bildet, steht ein geschnitzter Barockengel mit entfalteten Schwingen und gebauschtem Gewand, links hängt ein großes ungerahmtes Ölgemälde. Es handelt sich um die Aktdarstellung einer Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren, die auf einem Tuch liegt, welches auf einer Wiese ausgebreitet ist. Die Frau blickt den Betrachter aus dunklen Augen selbstbewußt an, sie scheint zu lächeln. Blondes Haar, das gelockt bis auf die Schultern fällt, rahmt ihr ovales Gesicht. Kopf und Oberkörper der Frau sind auf ein helles Polster am rechten Bildrand gebettet. Die Brüste vorgestreckt, den Bauch eingezogen, hält sie ihre Arme leicht gebeugt, die Hände ruhen in der Gegend der Hüften. Ein angewinkeltes Bein verdeckt ihre Scham. Auf der linken Seite des Bildes sind der Portikus eines antiken Tempels, Bäume und Statuen zu erkennen, hinter dem nackten Körper der Frau scheint eine diffuse Lichtquelle auf, wobei es sich um einen Sonnenaufgang im Morgendunst handeln könnte. Vor dem Kamin ist ein niedriger ovaler Tisch mit einer Metallplatte plaziert. Darauf steht eine geöffnete Sektflasche, neben der ein leeres Tablettenröhrchen liegt. Um den Tisch gruppiert sich eine Sitzgruppe: zwei Polstersessel an den Seiten und, genau vis-à-vis von der offenen Feuerstelle, ein breites Sofa, auf dem zwei Personen sitzen, die einander zugewandt sind. Links sitzt die junge Frau, die auf dem Aktgemälde dargestellt ist. Sie ist allerdings nicht nackt, sondern mit einer dunklen, hochgeschlossenen Satinbluse bekleidet. Ihr gegenüber sitzt ein Mann, der etwa zehn oder fünfzehn Jahre älter als sie. Er hat dichtes dunkles Haar und trägt ein weitgeschnittenes helles Jackett. Beide halten in der rechten Hand gefüllte Sektgläser, mit denen sie anstoßen. Die Frau sieht dem Mann direkt in die Augen. Auch er scheint sie anzublicken, doch er kann sie nicht sehen, denn er ist erblindet. Er ist der Maler des Bildes, das über dem Kamin hängt. Nachdem er wegen eines inoperablen Gehirntumors seine Sehfähigkeit verloren hat, verlangt er zu sterben. Die Frau hat eingewilligt, ihm die letale Dosis eines Schlafmittels in den Sekt zu mischen. Er weiß nicht, daß auch sie sich vergiften wird, um ihm in den Tod zu folgen.

24. Juli 2014

Der Wind, der Wind, das himmlische Kind

Kino | »Kaze Tachinu« von Hayao Miyazaki (2013)

Ein Mann hat einen Traum, den Traum vom Fliegen. Weil seine Augen zu schlecht sind, um Pilot zu werden, beschließt Jiro Hirokoshi, Flugzeuge zu bauen. Er wird Ingenieur bei Mitsubishi und konstruiert im Auftrag der kaiserlichen japanischen Kriegsmarine perfekte Jagdflieger. Das Dilemma des Technikers, der das Gute will und dabei das Böse schafft, blendet Regissuer Hayao Miyazaki in seiner biographischen Imagination vollständig aus, sein Animationsfilm erzählt von der Verwirklichung einer reinen Vision, von der Suche nach makelloser Schönheit. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, schrieb Adorno; Miyazaki will nichts von diesem Satz wissen, will nichts wissen von Verantwortung oder gar Schuld, beläßt es bei dunklen historischen Andeutungen, sieht den Krieg, den Menschen machen, wie ein Erdbeben, das schicksalhaft über sie kommt. Vielleicht wäre diese bewußte Arglosigkeit weniger zwiespältig, schaffte die Fabel es, jenseits mirakulöser Bildfantasien und schlichter melodramatischer Erzählbausteine, etwas von der Faszination der Ingenieurkunst zu vermitteln, doch Jiro und seine Schwärmerei bleiben so flach, so ungreifbar wie der Kopf einer Senkniete. Während der lange Film von Episode zu Episode weht, ist viel Zeit, sich weitere poetische Biopics vorzustellen: »Light of a Thousand Suns« über Robert Oppenheimer oder »Schtorm« über Michail Kalaschnikow oder vielleicht »Mond von Peenemünde« über Wernher von Braun. Sie haben alle geträumt …

6. Juli 2014

Abschiedsvorstellung

Kino | »Aimer, boire et chanter« von Alain Resnais (2014)

Dernière eines großen Regisseurs. Das letzte Bild des letzten Films von Alain Resnais zeigt eine Beerdigung. Der Unsichtbare, um den die Handlung kreiste, derjenige, der, ohne in Erscheinung zu treten, die Beziehungen von drei Paaren auf die Probe stellte, wird zu Grabe getragen. Die Kamera blickt von oben auf die herbstliche Szene. Der Priester bedenkt den Heimgegangen aus dem Off mit freundlichen Worte, die sechs Personen des Stücks sind noch einmal versammelt, sagen stumm adieu, werfen rote Rosen auf den geschlossenen Sarg, gehen nacheinander ab, ganz zum Schluß kommt ein junges Mädchen (wie der Verstorbene war sie bislang dem Auge des Publikums entzogen), legt statt einer Blume das Bild eines geflügelten Totenschädels auf den Sargdeckel. Danach das Wort »Fin«, weiß auf schwarz, schnell kleiner werdend, in der Mitte der Leinwand verschwindend. Ein Lebenswerk ist abgeschlossen. Etwas substantiell Neues hat der Meister seinem Œuvre nicht mehr hinzugefügt: eine weitere Adaption einer Gesellschaftskomödie von Alan Ayckbourn, ein weiteres Spiel mit gut aufgelegten Darstellern (Sabine Azéma in ihrem zehnten Resnais-Film, André Dussolier in seinem siebten, Sandrine Kiberlain gibt ihr Debüt) in apart stilisierten Kulissen (Jacques Saulnier, Resnais’ chef décorateur seit »Marienbad«, zaubert eine ganze Welt aus farbigen Papierbahnen und wenigen Requisiten), angesiedelt irgendwo zwischen Sacha Guitry und Seifenoper. Dazu, wie so oft beim strengen Formalisten Resnais: gliedernde Intermezzi (in diesem Fall Autofahrten durch die nordenglische Provinz und ein grinsender Maulwurf) – und, wie so oft beim begeisterten BD-Fan Resnais: Comic-Illustrationen (diesmal nicht von Floc’h sondern von Blutch). Ein Testament? Nein. Eher eine plaisanterie. Also ein überflüssiger Film? Ja. So überflüssig wie lieben, trinken und tanzen: »Sachons aimer, boire et chanter, / C'est notre raison d'exister, / Il faut dans la vie / Un brin de folie.« (Mit anderen Worte: doch ein Testament.)

3. Juli 2014

Standbild (4)

Morgue

Innen. Leichenhalle. Tag. Der Boden des fensterlosen Raums ist mit hellgrauen, quadratischen Steinplatten belegt, die Wände und ein schmaler Bodenstreifen entlang der Wandkanten sind weiß gefliest. In einer Ecke des Raums steht eine Rollbahre, deren Unterbau aus weißlackierten Rundrohren gefertigt ist. Ihre vier, mehrfach miteinander verstrebten Beine sind auf tellergroße, stahlgraue Metallräder montiert. Die Liegefläche ist mit einem weißen Tuch verhüllt, das die Form eines ausgestreckten Körpers nachbildet. Deutlich sind unter den Falten des Stoffs der Kopf, die Brüste, die auf dem Bauch gefalteten Hände und die Beine zu erkennen. Rechts an der Wand zeichnet sich übergroß das klar konturierte Schattenbild des Gestells und des darauf ruhenden, zugedeckten weiblichen Leichnams ab, so als beschiene ein in Bodenhöhe positionierter Scheinwerfer das Objekt. Auf dem Fußende der Bahre liegen, dicht nebeneinander, doch ohne sich zu berühren, als einzige Farbtupfer im eintönigen Weißgrau des Raums drei Orangen. Ebendiese Früchte sind der inzwischen Verstorbenen aus ihrer Korbhandtasche gefallen, unmittelbar nachdem sie, ihrem verärgerten Geliebten nachlaufend, von einem vorbeirasenden weißen Sportwagen erfaßt und tödlich verletzt worden war.


27. Juni 2014

Standbild (3)

Eisenbahn

Innen. Zugabteil. Tag. Es handelt sich um ein Abteil erster Klasse mit zwei einander gegenüberstehenden, dunkel bezogenen Polsterbänken, die von halbrund vorge­wölb­ten Kopfstützen und schwebenden Armlehnen in jeweils drei Sitzplätze aufgeteilt werden. Die oberen Bereiche der Rückenpolster sind mit weißen Tüchern bespannt, auf denen flache quadratische Kissen hängen. Paneele aus ockerfarbenem Eichenholzimitat dienen als Wandverkleidung. Links und rechts vom Abteilfenster, dessen Scheibe von einem dunkelbraunen Metallprofil mit abgerundeten Ecken gerahmt wird, hängen cremefarbene Gardinen. Unterhalb des Fensters sind, zwischen zwei senkrecht gestellten Klapptischen, der Drehregler für die Heizung und ein Abfallbehälter angebracht. Im Abteil befinden sich insgesamt vier Personen. Auf dem rechten Gangplatz sitzt ein alter, weißhaariger Mann in dunklem Anzug, mit hellblauem Hemd und geometrisch gemusterter Krawatte. Sein Mund ist geöffnet. Er spricht zu einem am Fenster stehenden Mädchen von zehn oder elf Jahren. Es trägt ein rotes Dirndl mit weißen Puffärmeln und einer schwarzen, auf dem Rücken gebundenen Schleife. Die blonden Zöpfe des Kindes fallen nach vorne über die Schultern. Die Hände gegen das Glas der Scheibe gepreßt, sieht das Mädchen hinaus in die vorbeiziehende Landschaft, die sich folgendermaßen in die Tiefe staffelt: zunächst ein Streifen Grünland, der, parallel zur Bahnstrecke, von einer Schnellstraße durchschnitten wird, dahinter ein breiter, von zahlreichen Schiffen befahrener Fluß, entlang der anderen Uferseite ein bewaldeter Höhenzug, auf dessen Gipfeln sich pittoreske Burgen erheben. Den rechten Fensterplatz besetzt eine etwa dreißigjährige rothaarige Frau in einem luftigen weißen Kleid. Sie betrachtet, geheimnisvoll lächelnd, die ihr gegenübersitzende Reisende, eine auffallend elegante Dame von schätzungsweise 35 Jahren. Zu Füßen der Dame liegt ein herabgefallenes Magazin mit dem Titel ›Schöne Welt‹. Aus den offenen Spitzen ihrer hochhackigen Riemchenschuhe leuchten rotlackierte Zehennägel. Die Dame ist in ein Kostüm aus weißem Satin gekleidet, eine exquisite Kombination aus wadenlangem, plissierten Rock, schlichtem, körpernahen Top und weit geschnittener Jacke mit eckigem Revers und mehrfach umgeschlagenen Ärmeln. Um den Hals trägt sie ein doppelreihiges Perlencollier sowie ein dünnes Kettchen, an dem ein Schmuckstück in Form eines Fisches hängt. Die Dame hält ihren Kopf seitlich gesenkt, ihre Augen sind halb geschlossen, um ihr zartes, dezent geschminktes Gesicht fällt in sanften Wellen schulterlanges, sorgfältig gescheiteltes, goldblondes Haar. Ihre Arme sind angewinkelt, wobei die linke Hand auf dem flachen Bauch liegt, den die rechte mit dem darübergezogenen Seitenteil der Jacke bedeckt. Die Dame verbirgt eine tödliche Verletzung vor ihren Mitreisenden, eine Stichwunde, die ihr wenige Stunden zuvor von ihrem eifersüchtigen Gatten mit einem goldenen Brieföffner beigebracht wurde, nachdem er die Liaison seiner Frau mit einem Zugkellner entdeckt hatte. Langsam innerlich verblutend, blickt die Dame aus dem Abteilfenster, ohne zu ahnen, daß in einem draußen vorbeirasenden Taxi ihr Ehemann und Mörder sitzt.

25. Juni 2014

Shadows of Noir

Zwei Filme von Irving Lerner

1958 | »Murder by Contract«

»Now why would a stranger kill a stranger? Because somebody’s willing to pay. It's business.« Claude (Vince Edwards), ein adretter junger Mann mit sicherer Stellung und akzeptablem Gehalt, möchte sich verbessern: »I want to be a contractor.« Claude hat einen Traum: ein Haus am Fluß. Jeder Auftrag bringt ihm 500 $. So rückt das Ziel in greifbare Nähe: »When you do a good job, the money comes.« Nachdem er sich – in kurzen, elliptisch gestalteten Episoden – mehrfach bewährt hat (unter anderem durch Beseitigung seines Anwerbers), wird der umsichtige Killer (»I don’t make mistakes.«) nach Los Angeles geschickt, wo er, unterstützt und überwacht von zwei Komplizen, einen Kronzeugen vor der gerichtlichen Vernehmung eliminieren soll … Ein kühler Thriller, schnell produziert, ohne formale Schnörkel, eine existenzialistische Farce voll makabrer Komik und absurder Situationen, das lakonische Porträt eines Loners, der von sich behauptet, jedes persönliche Gefühl ausgeschaltet zu haben: »I feel hot, I feel cold, I get sleepy, and I get hungry.« Claude beginnt bezeichnenderweise die Kontrolle in jenem Moment zu verlieren, da er erfährt, daß der abzuservierende Zeuge eine Zeugin ist: »I don’t like women. They don’t stand still.« Irving Lerner und sein Kameramann Lucien Ballard (der auch Stanley Kubricks meisterlichen Spät-Noir »The Killing« fotografierte) geben diesem B-Movie das Gepräge eines grotesken (Genre-)Totentanzes mit parodistischem Unterton: Eine der schönsten Szenen von »Murder by Contract« spielt in den schäbigen Kulissen eines aufgelassenen Hollywood-Studios. Die kongeniale Endspiel-Musik von Perry Botkin zitiert Anton Karas’ legendären Wiener Zithersound: Ein grandioser, minimalistisch-melancholischer Gitarrenscore (die Tracks tragen so wunderbare Titel wie »The Executioner Theme« und »Waltz of the Hunter«) vereinigt, ebenso wie Lerners souveräne Regie, ironisch gebrochenes Pathos und todtraurigen Humor.

1959 | »City of Fear«

»I’m not an animal. I’m a person. I want things.« Vince Ryker (Vince Edwards), entflohener Sträfling aus San Quentin, taucht in Los Angeles unter. Seine ganze Habe ist eine gestohlene Metallbüchse, von der er annimmt, sie enthalte ein Pfund reinen Heroins – in Wirklichkeit aber birgt sie hochradioaktives Cobalt-60. Verschlossen bedeutet der Behälter den sicheren Tod für seinen nichtsahnenden Besitzer, würde der Deckel geöffnet, bestünde akute Kontaminierungsgefahr für die Millionenstadt … Irving Lerners straffes Krimidrama zeigt in wirkungsvollen Parallelmontagen die kriminelle Geschäftstätigkeit des vergifteten, immer schwächer werdenden Flüchtlings (der glaubt, sich eine schwere Erkältung eingefangen zu haben) und die zunehmend verzweifelten (vor der Öffentlichkeit geheimgehaltenen) polizeilichen Anstrengungen, das verhängnisvolle Gefäß aufzuspüren. Überhaupt bestimmen gestalterische Kontraste die Inszenierung: Kameramann Lucien Ballard kombiniert die statische Tristesse steriler Innenräume mit hektischen Autofahrten durch die Stadt, mischt funktionale On-location-Fotografie und expressive Low-key-Aufnahmen; die fulminante Tonspur verbindet Jerry Goldsmiths bald fiebrig treibende, bald gespenstisch schwebende Musik mit dem aufgeregten Sirenengeheul der Einsatzwagen und dem unheilverkündenden Knirschen der Geigerzähler. Dabei steuert »City of Fear« (dessen Story Erinnerungen an zwei andere Nuklear-Thriller wachruft: Matés fatalistischen »D.O.A.« und Aldrichs exaltierten »Kiss Me Deadly«) ohne Umschweife auf sein süffisantes Ende zu: Vince, starrsinnig davon überzeugt, das große Los gezogen zu haben, klammert sich bis zuletzt, keuchend, schwitzend, stöhnend, an sein Verderben: »It’s worth a million!«

20. Juni 2014

Standbild (2)

Abschied

Innen. Vergnügungslokal. Nacht. Die allgemeine Saalbeleuchtung, eine große Zahl von bunten Glühbirnen, Wandlampen und Scheinwerfern, ist ausgeschaltet. Die einzige verbliebene Lichtquelle im Raum, eine rote Schirmlampe mit Fransenborte, die etwa einen Meter über einem runden, vierbeinigen Tisch hängt, verbreitet diffuses Zwielicht. Links ist eine Folge von Holzsäulen mit schnörkeligen Verzierungen und roter Bemalung zu erkennen. Diese geschmückten Pfosten und ein zwischen ihnen verlaufendes Geländer aus senkrechten Brettern umsäumen den zentralen Bereich des Lokals, der, aufgrund seiner Weitläufigkeit und wegen seines Sandbodens, an eine Zirkusmanege erinnert. Die Zuschauertische stehen erhöht auf einem kreisförmig um die Arena gebauten Podest, die Sitzgelegenheiten, viele zusammenklappbare Gartenstühle mit Metallgestellen und einige einfache Holzstühle, sind größtenteils übereinander auf den Tischen gestapelt. Über die gesamte Länge der Rückwand erstrecken sich ein hölzerner Bartresen und, dahinter, eine verspiegelte Etagere; in den Fächern des Regals reihen sich, dicht an dicht, Flaschen und Gläser unterschiedlichster Form und Größe. Rechts steht, im Augenblick ungenutzt, eine schmiedeeiserne Garderobenwand, in deren rechteckige Rahmung ein Geflecht aus Maschendraht gespannt ist. Von der Decke hängen zahlreiche künstliche weiße Tauben mit ausgebreiteten Schwingen herab. Im Schein der roten Schirmlampe verteilen sich, in gemäßigter Unordnung, die Reste eines Umtrunks auf der, mit einem gemusterten Tuch bedeckten, runden Tischplatte: zwei geöffnete Flaschen, etliche Schnapsgläser und Sektflöten, in denen jeweils eine Neige steht, daneben ein Zinnleuchter ohne Kerze, eine Zigarrenkiste und ein randvoller Aschenbecher, außerdem eine kleine Skulptur, es handelt sich um die figürliche Darstellung eines Afrikaners im Kolonialstil, und ein Aufsteller mit Wimpel, der die diagonale Beschriftung ›Stammtisch‹ trägt. Um den runden Tisch stehen vier leere, nicht zusammenpassende Stühle, sowie die einzige im nächtlichen Lokal anwesende Person, eine Frau von etwa fünfzig Jahren. Ihre müdes Gesicht wirkt wie versteinert, ihr starrer Blick ist auf ein nicht mehr sichtbares Objekt gerichtet. Der Körper der Frau neigt sich fast unmerklich zur Seite, ihre linke Hand stützt sich leicht auf die Tischkante. Sie trägt ein ärmelloses, enganliegendes, tief ausgeschnittenes Kleid aus schwarzem, perlenbesetzten Stoff mit entsprechendem Halsband, mehrere klobige Ringe und einen sehr breiten silbernen Armreif. Der linke Schulterträger ihres Kleides hängt verrutscht nach unten, die Frisur ihres dichten roten Lockenhaares ist zerzaust, über ihre Wangen rinnen Tränen und zerlaufende Wimpertusche. Die Frau ist die Besitzerin des Lokals. Sie sieht dem Mann nach, den sie liebt, dem Mann, der noch vor kurzem die Hauptattraktion ihres Etablissements war, dem Mann, der sie soeben verlassen hat, einem Mann, der nach langen Jahren, die er als Stimmungssänger an Land verbrachte, infolge einer persönlichen Enttäuschung beschlossen hat, wieder zur See zu fahren.

14. Juni 2014

Standbild (1)

Familiensache

Innen. Schloßhalle. Nacht. Der Fußboden ist vollständig mit hellen, kleingemusterten Knüpfteppichen bedeckt, deren Kanten und Fransen einander überlappen. Links an der Wand befindet sich ein großer offener Kamin mit einer wuchtigen Marmoreinfassung. Auf dem massigen Sims stehen ein feingliedriger, silberner Pokal und ein schweres, schwarzes Gefäß, das an eine Urne gemahnt. Die Feuerstelle des Kamins umgibt, in halbkreisförmiger Anordnung, eine Sitzgruppe, die aus mehreren kastigen Fauteuils sowie einem thronartigen Sessel mit sehr hoher Rückenlehne, geschwungenen Beinen, gedrechselten Verzierungen und streng gestreiftem Stoffbezug besteht. Im rückwärtigen Bereich der Halle führt eine breite Steintreppe zunächst auf ein Zwischenpodest, von dort weiter nach links auf eine Galerie, die den gesamten weitläufigen Raum überblickt. Die beiden unteren Abschlußsäulen der Balustraden dienen jeweils als Halterung für vielarmige Bronzekandelaber. Auf dem Treppenpodest ist genau mittig eine zweibeinige Konsole plaziert, auf der ein Kerzenhalter und, den Leuchter links und rechts flankierend, zwei bauchige Metallgefäße symmetrisch arrangiert sind. Über dem Wandbord hängt ein Gobelin von beachtlichen Ausmaßen. Die Tapisserie stellt in annähernder Lebensgröße eine festliche Gesellschaft dar: Eine Schar von anmutigen, nach Mode des Rokoko frisierten Frauen in üppig gerüschten Roben sitzt ausgelassen um einem runden Tisch; seitlich hinter ihnen öffnet sich der Blick in eine idyllische Landschaft, wo eine Gruppe von Musikantinnen lagert. Im Vordergrund der Halle stehen drei Personen, reglos, mit hängenden Armen und gesenkten Köpfen: eine junge blonde Frau, die ein kariertes Tageskostüm und weiße Pumps trägt, sowie zwei Männer mittleren Alters in dunkelgrauen Straßenanzügen. Alle drei blicken schweigend auf den Boden, wo eine Frau von etwa siebzig Jahren liegt. Ihr Kopf ist zurückgekippt, das spitze Kinn weit hochgereckt, Augen und Mund sind geschlossen. Ein starkes Make-up läßt ihre distinguierten Gesichtszüge gläsern und maskenhaft erscheinen. Den zarten Körper der liegenden Frau umhüllt der in feine Falten geworfene, weiße Seidenstoff eines eleganten Abendkleides. An den Handgelenken und um den Hals, an den Ohren und im dichten schwarzen Haar der Frau glitzern schwere, mit verschiedenfarbigen Edelsteinen besetze Schmuckstücke: breite Armreifen und ein mehrreihiges Collier, tropfenförmige Ohrgehänge und ein dreieckiges Diadem. Der linke Arm der Frau ist seitlich vom Körper abgewinkelt. Auf dem Rücken der knochigen Hand, deren Fingernägel sorgfältig lackiert sind, rinnt ein dünner Blutfaden aus einer winzigen Wunde. Die alte Dame hat sich vor wenigen Augenblicken mit einer vergifteten Nadel, die im Inneren ihres aufklappbaren Siegelringes verborgen war, das Leben genommen, nachdem man sie als Brudermörderin und Erbschleicherin entlarvt hatte.

8. Juni 2014

Märchen aus der Wirklichkeit

Drei Meisterwerke von Rudolf Thome (Regie) und Max Zihlmann (Buch)

1969 | »Detektive«

Münchner Schule in schwarzweiß und Ultrascope. Ein helles Neubaubüro: ein schwarzer Schreibtisch, zwei Sessel, ein Aktenregal, eine Reiseschreibmaschine, ein Bett. Zwei Freunde, Andy Schubert (Marquard Bohm) und Sebastian West (Ulli Lommel), ziemlich entspannte Typen, lümmeln herum, spielen Detektiv – Philip Marlowe und Sam Spade lassen grüßen, Jean-Paul Belmondo und Alain Delon stehen Pate. Dazu die unvermeidliche Sekretärin: Micky (Uschi Obermeier), die ans Telefon geht, die Drinks mixt, die, wie man sehen wird, ein eigenes Süppchen kocht. Ihre Arbeit sehen die Detektive eher sportlich, fahren in offenen Wagen durch die Gegend, sind jederzeit bereit, ihre Auftraggeber zu hintergehen und sich mit den Zielpersonen zu solidarisieren, wenn sie nur hübsch genug sind, wie zum Beispiel Annabella (Iris Berben), die von einem gewissen Busse verfolgt und mit der Waffe bedroht wird. »Ich an deiner Stelle würde ihn ja heiraten«, sagt die pragmatische Micky zu Annabella, »so schnell findest du nicht wieder einen Mann, der auf dich schießt.« Nach und nach entwickelt sich aus dem Geplänkel eine Art Story, mindestens so kompliziert wie bei Raymond Chandler: Liebe, Eifersucht, Intrigen, Betrug, Doppelspiel, Entführung, Erpressung, Gift, Mord. Im Mittelpunkt steht Krüger (Walter Rilla), ein kultivierter alter Herr, der hat, was alle wollen: Geld. 100000 Mark Versicherungssumme sind bei Krügers Tod fällig, egal ob er im Bett stirbt oder einem Verbrechen zum Opfer fällt. Thome und Zihlmann erzählen in ihrem nüchtern-skurrilen Film-noir-Pastiche keinen einfachen Generationenkonflikt, denn im Kampf um das Erbe der Väter zeigen die Jungen nicht den geringsten Gemeinschaftsgeist: Jeder ist sich selbst der nächste. Geschossen wird mit der gleichen kühlen Selbstverständlichkeit wie geküßt oder geschlafen, wie Whisky getrunken oder Steaks gebraten … Zeitgeist und Kinomythen, zusammengebunden von zwanglosen Bewegungen der Akteure und der Kamera, von vibrierendem Jazzrock und lapidaren Dialogen: »Ich habe auch einmal zu Hoffnungen Anlaß gegeben, ich konnte mich nur nie entscheiden, zu welchen.«

1970 | »Rote Sonne«

Eine Wohngemeinschaft in München. Einfarbig gestrichene Räume, ockergelb, flaschengrün, hellblau, rosarot, bewohnt von vier jungen Frauen, Peggy, Sylvie, Christine, Isolde. Ein eigenes Zimmer hat keine von ihnen: »Wir schlafen mal da und mal da.« Eines Tages kreuzt Thomas auf (Marquard Bohm spielt ihn mit unwiderstehlich kaputtem Charme), ein alter Bekannter von Peggy (viel Haar, viel Bein: Uschi Obermeier), nistet sich ein, nassauert, wie es eben so seine Art ist, bemerkt irgendwann, daß etwas nicht stimmt. »In dieser Wohnung gehen Dinge vor, die die Vorstellungskraft übersteigen.« Four girls and a gun: Die Männerbekanntschaften der Mädchen müssen nach fünf Tagen tot sein. Spätestens. »Schließlich haben sie es verdient.« Die unsentimentalen filles fatales machen das nicht aus Spaß. Ihr Projekt ist revolutionär. Das überkommene Verhältnis zwischen Männern und Frauen steht zur Disposition. Thome und Zihlmann entwickeln ihre perplex-lustvolle Männerphantasie (das Stichwort »Vampirfilm« fällt wohl nicht ohne Grund) vor dem Hintergrund des sich formierenden Feminismus. Die Forderungen des »Aktionsrats zur Befreiung der Frauen« spuken durch die Erzählung, ebenso wie Valerie Solanas Mordanschlag auf Andy Warhol. (Die Autorin des ›SCUM Manifesto‹ und ihre spektakuläre Tat mögen auch Zbynek Brynych zu seiner – zeitgleich entstandenen – exzentrischen Gesellschaftssatire »Die Weibchen« inspiriert haben.) »Rote Sonne« nimmt den Geschlechterdiskurs freilich nicht ernster als das lässige Spiel mit Kinoposen (die wiederum nichts anderes sind als stilisierte Lebensäußerungen): in der Badewanne liegen, Zigarre rauchen, mit Schußwaffen hantieren, tanzen, küssen, sterben – Hollywood von Schwabing aus durch die Nouvelle-Vague-Brille gesehen … Die Sache der Frauen hat übrigens ihre Schwierigkeiten: Wie in jeder radikalen Bewegung gibt es nicht nur Loyalität und Entschlossenheit, sondern auch Zweifel und Verrat. Peggy liebt Thomas, zögert, ihn umzubringen, obwohl er längst auf der Abschußliste steht. Am Ende wird sie wieder auf Linie gebracht: »Du mußt jetzt konsequent sein.« Das rotglühende Finale findet bei Sonnenaufgang am Starnberger See statt: Lichtspiele auf den Wellen, eine Schießerei im Wald, zwei leblose Körper am Wasser. Der Tod tanzt zum Adagio von Albinoni: »Man muß immer darauf achten, daß man ein gewisses Niveau nicht unterschreitet. Sonst ist es schnell aus.«

1971 | »Supergirl«

Sie taucht auf, in der Ferne, zwischen den hohen Grashalmen einer Wiese, trägt einen orangefarbenen Overall, kommt langsam näher. Sie hält einen roten Ferrari an, steigt ein, sagt nicht viel, läßt sich vom Fahrer mitnehmen in dessen Apartment, wo sie sich auszieht, ins Bett legt und einschläft. In der Tasche ihres Overalls findet sich lediglich ein bolivianischer Paß, ausgestellt auf den Namen Francesca Farnese. Iris Berben spielt diese Frau, attraktiv und enigmatisch, zart und doch entschlossen, sie schwebt gleichsam durch Thomes und Zihlmanns pop-poetisches Kinokonstrukt, umgeben von einem intergalaktischen Mysterium. Die einsilbige Francesca trifft auf den coolen Erfolgsschriftsteller Evers (Marquard Bohm), der zu ihr sagt: »Ich liebe geheimnisvolle Frauen. Sie sind mein Untergang.« … »Supergirl« ist eine Science-Fiction-Comic-Mystery-Romanze in leuchtenden Farben: Vielleicht geht es um das Schicksal der ganzen Menschheit, vielleicht um die Beziehung zweier Menschen, vielleicht auch um beides, denn das eine hat ja mit dem anderen zu tun. Die rätselhafte Schöne, die starkes Interesse an den Vereinigten Staaten hat, begleitet den literarischen Bohemien zu einem amerikanischen Produzenten, der Evers’ Bestseller auf die Leinwand bringen will. »Supergirl« ist ein lakonisch-ironisches Film-Film-Roadmovie: von den Sternen nach München nach Zürich nach Madrid nach Paris und zurück zu den Sternen. Dazu passen die Cameo-Auftritte von Fassbinder, Lemke, Constantine, die Besetzung der stereotypischen Franco-Yankees Jess Hahn (der Pierre aus »Le signe du lion«) als Westentaschen-Tycoon Polonsky und Billy Kearns (der Freddy aus »Plein soleil«) als polternder Senator Quimby. Francesca, die von sich behauptete, sie stamme vom dritten Planeten des Systems Alpha Centauri und sei auf die Erde gereist, um die Mächtigen vor einem drohenden Sternenkrieg zu warnen, verschwindet schließlich so beiläufig, wie sie gekommen ist. Sie steigt in einen schwarzen Cadillac, der sie fortbringt. Über den Zurückgelassenen spannt sich weit und blau der Himmel, das große Meer der Träume.

25. Mai 2014

Der Witz und seine Beziehung zum Hochbewußten

Kino | »Über-Ich und Du« von Benjamin Heisenberg (2014)

Komik als Konzept. Skurrile Charaktere. Trockene Pointen. Attraktive Settings. Präzise Beobachtungen. Interessante Konstellationen. Schuld und Schweigen. Vater und Mutter. Sprechen und Scham. Alter und Jugend. Übertragung und Projektion. Bücher und Geld. Körper und Seele. Psychologie und Geschäft. Müdigkeit und Überschwang. Therapie und Verbrechen. Prügel und Massage. Wechselwirkung und Diebstahl. Villa und Alm. Gestern und heute … Gut und schön. Aber wer sind diese Leute? In welcher Welt leben sie eigentlich? Wovon reden sie bloß? Wo ist der Zusammenhang? Und wenn ja, warum? Fragen über Fragen. »Stellen Sie sich vor, Sie sind ein kleiner Baum.«

24. Mai 2014

Schnurrbart des Grauens

Die Fu-Manchu-Filme der sechziger Jahre

1965 | »The Face of Fu Manchu« von Don Sharp

»He’s cruel, callous, brilliant, and the most evil and dangerous man in the world«, sagt Scotland-Yard-Inspektor Nayland Smith (gespielt von Nigel Green, einem Inbild des britischen Stiff-upper-lip-Kolonialoffiziers) über seinen Gegenspieler: Dr. Fu Manchu (Christopher Lee), ein besonders abgefeimtes Exemplar aus der langen Galerie promovierter Erzschurken – Dr. Caligari, Dr. Mabuse, Dr. No –, greift, wie es sich für den bösartigsten Mann der Welt gehört, nach der Herrschaft über die gesamte Menschheit. Es ist die sprichwörtliche »gelbe Gefahr«, die Fu Manchu in Harry Alan Towers’ englisch-deutscher Koproduktion fratzenhaft verkörpert, der personifizierte Angsttraum des zivilisierten Westens vor der orientalischen Despotie. Nichts weniger als »the secret of universal life« will der Superverbrecher (assistiert von seiner sadistischen Tochter Lin Tang) enträtseln, besser gesagt: aus seltenen tibetischen Samenkörnern destillieren (wozu er die mehr oder weniger freiwillige Hilfe europäischer Gelehrter benötigt), wobei es ihm als großem Zerstörer um die Überwindung des irdischen Lebens geht, um »the life after this life«, kurz: um den Tod. Der Spielort des von Don Sharp mit spröder Eleganz inszenierten, im Zwischenreich von James Bond und Edgar Wallace angesiedelten Pulp-Dramas, das behaglich-graue London der 1920er Jahre, erweist sich als längst unterhöhlt von Geheimgängen und Folterkellern, und immer wieder durchzuckt das grelle Rot einer letalen Bedrohung die stolze Selbstgewißheit der Metropole des Empire. »Remember Fleetwick«, läßt Fu Manchu mit alarmierend ruhiger Stimme über Radio verlauten; kurz darauf ist eine Kleinstadt ausgelöscht – als erpresserische Ankündigung des kommenden, noch verheerenderen Unheils. Am Ende siegt das Gute, und das Böse bekundet seine Unbesiegbarkeit: »The world shall hear from me again.« (Gaststars: Joachim Fuchsberger und Karin Dor)

1966 | »The Brides of Fu Manchu« von Don Sharp

»You have no will, no mind of your own.« Fu Manchu, in giftig glänzendes Smaragdgrün gewandet, will einmal mehr die Weltherrschaft an sich reißen und erweist sich dabei als östlicher Pervertierer westlicher Fortschrittseuphorie: Seine Schergen entführen zu Erpressungszwecken die Töchter genialer (wiederum europäischer) Wissenschaftler, deren kombinierte Forschungsergebnisse die Übermittlung von Zerstörungsenergie via Radiowellen ermöglichen. Am Fuße des marokkanischen Atlasgebirges unterhält der Teufel in Chinesengestalt in einer umgenutzten antiken Tempelanlage seine hochmoderne Leitzentrale, in der zum einen die schönen Frauen als lebende (und hörige) Faustpfände einsitzen, von der aus zum anderen die tödlichen Strahlen in den Äther gefunkt werden. Abermals von Don Sharp ins Werk gesetzt, entbehrt der zweite Teil der Reihe leider sowohl der gelassenen Stilsicherheit des Vorgängers wie auch der kühl-effektvollen Ausmalung von Gefahr: Weder jene Szene, die die ostentative Zerstörung eines Dampfschiffs zeigt, noch der Angriff auf eine hochkarätig besetzte Arms Conference, deren Teilnehmer sich in der Londoner St. Paul’s Cathedral versammeln, schöpfen das vorhandene Spannungspotential auch nur ansatzweise inszenatorisch aus. »In a few moments the entire world will capitulate to me«, phantasiert Fu Manchu; seinem entschlossenen Verfolger Nayland Smith (Sherlock-Holmes-Darsteller Douglas Wilmer ersetzt Nigel Green) gelingt es, wie zu erwarten war, eben dies zu verhindern, freilich ohne das schlitzäugige Grundübel endgültig ausmerzen zu können: »The world shall hear from me again.« (Gaststars: Heinz Drache und Maria Versini)

1967 | »The Vengeance of Fu Manchu« von Jeremy Summers

»World domination? That means Fu Manchu!« Ein Film über Vergeltungsgelüste und über Organisationsstrukturen in einer sich dramatisch wandelnden Welt. Fu Manchu, der sein Hauptquartier in der nordchinesichen Provinz aufgeschlagen hat, schwört blutige Rache an seinem hartnäckigsten Gegner, dem britischen Ordnungshüter Nayland Smith. Gleichzeitig formieren sich zwei antagonistische Interessengemeinschaften: Auf der einen Seite bilden die nationalen Sicherheitskräfte eine globale Polizeibehörde (genannt: »Interpol«) zur vereinten Bekämpfung des weltweiten Verbrechens, welches auf der anderen Seite im Begriffe steht, sich unter einem gemeinsamen Führer (wem wohl?) zusammenzuschließen, um im Kollektiv vernichtende Schlagkraft zu gewinnen. Fu Manchu, das kriminelle Superhirn, das seine asiatischen Zerstörungstaten als »work of infinite pleasure« bezeichnet, plant, die Polizeichefs aller Staaten gegen hypnotisierte Doppelgänger auszutauschen, die ihrerseits brutale Straftaten verübten, wodurch sich das Gesetz gleichsam selbst untergrübe – warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Zum ersten Opfer ist kein anderer als Nayland Smith auserkoren, und in schöner Serientradition muß ein durch Bedrohung seiner Tochter gefügig gemachter westlicher Spezialist widerwillige Hilfsdienste leisten. Von Jeremy Summers professionell aber weitgehend ohne schöpferische Inspiration eingerichtet, läuft das Schurkenstück mit ein paar dezent-grausamen Einlagen auf das planmäßige Finale zu: Fu Manchus ehrgeizige Ideen verpuffen ebenso wie sein palastartiges Befehlszentrum, und durch quellende Rauchschwaden klingt das vertraute Schlußwort: »The world shall hear from me again.« (Gaststars: Horst Frank und Wolfgang Kieling)

1968 | »The Blood of Fu Manchu« von Jess Franco

Jess Franco meets Fu Manchu. Eine Karawane von aneinandergeketteten, in aufreizende Lumpen gehüllten Frauen wird durch den südamerikanischen Urwald gepeitscht. Kein schlechter Anfang für ein sexistisches Mystery-Abenteuer. Auch die Prämisse klingt vielversprechend: Fu Manchu nutzt ein uraltes, verderbenbringendes Geheimnis, um seine Feinde zu bekämpfen: tödliches Schlangengift, das den gekidnappten Schönen per Biß in die Kehle (oder in den Busen) verabfolgt wird, damit es über deren Blut und Lippen die wehrlosen Opfer weiblicher Reize erreiche. Nayland Smith (gespielt von Richard Greene, dem dritten und mit Abstand fadesten Darsteller des wackeren Scotland-Yard-Beamten) ist der Erste einer ganzen Reihe von hochrangigen, aber im filmischen Verlauf unsichtbar bleibenden Zielpersonen, der den Todeskuß empfängt, woraufhin er erblindet und lediglich bis zum nächsten Vollmond Zeit hat, ein wirksames Gegenmittel zu finden. Die simpel-verworrene Handlung läßt – neben den lebensgefährlichen Evastöchtern – einen taffen Archäologen, eine rotbestrumpfte Krankenschwester sowie einen feisten, unentwegt lachenden Schießbudenbanditen unzählige überflüssige Pirouetten drehen, während der chinesische Strippenzieher in einem unterirdischen Inkatempel sitzt, ohne je das Tageslicht zu sehen, ein fast bedauernswerter Gefangener seiner gekränkten Eitelkeit und der daraus resultierenden quasipubertären Allmachtsphantasie. »Everlasting death, horrible, inescapable, universal death«, wünscht Fu Manchu der gehaßten Menschheit an den Hals, doch seine toxische Botschaft bleibt ungehört. Am Ende heißt es wie gehabt: »The world shall hear from me again.« (Gaststars: Götz George und Maria Rohm)

1969 | »The Castle of Fu Manchu« von Jess Franco

»This is Fu Manchu. Once again the world is at my mercy.« Nicht nur die Welt ist der Gnade des ruchlosen Verbrechers (und seines abermaligen Regisseurs Jess Franco) ausgeliefert, sondern auch das Publikum: Das Scheusal hat sich die Geheimformel eines gewissen Professor Hercules verschafft, die es ermöglicht, das Wasser der Ozeane mittels eines kristallinen Opium-Derivats binnen Sekunden in Eis zu verwandeln. Da es noch einige chemische Probleme zu lösen gilt, der Professor jedoch an akuter Herzschwäche leidet, werden kurzerhand ein Chirurg und seine Assistentin entführt, die im Istanbuler Hauptquartier des Schurken eine rettende Organtransplantation durchführen müssen; unterdessen ist Nayland Smith darum bemüht, die Menschheit vor dem ultimativen Gefrierschock zu bewahren … Zu Beginn des Films verwurstet Franco ungeniert die Schlußsequenz des zweiten Teils der Reihe, »The Brides of Fu Manchu«, sowie blau gefärbte Ausschnitte aus dem schwarzweißen Titanic-Drama »A Night to Remember«, um sich sodann lustlos durch die törichte Handlung zu lavieren; nur einige im surrealen Ambiente des Gaudíschen Parque Güell in Barcelona gedrehte Szenen und die bavaesk illuminierte Höhlenwelt von Fu Manchus Blubberlaboratorium faszinieren durch ihr phantastisch-geschmackloses Formgefühl. So erfährt die Legende vom gelben Satan schließlich und endlich ihre Entzauberung in kinematographischem Blödsinn: The Folly of Fu Manchu oder Die Debilität des Bösen. The world shall not hear from him again. (Gaststars: Günther Stoll und Maria Perschy)

20. Mai 2014

Unheimliche Heimat

Buch | »Nachkriegskino« von Gerhard Bliersbach (2014)

Der westdeutsche Nachkriegsfilm genießt keinen guten Ruf. Der außerordentliche Erfolg beim Publikum – 1956, als in der Bundesrepublik über 800 Millionen Kinokarten verkauft wurden, lag der Marktanteil heimischer Produktionen bei fast 50 % – hat sich für das »Schnulzenkartell« (Alexander Kluge) imagemäßig nicht bezahlt gemacht: Rezensenten, sowohl den schöngeistigen Feuilletonisten als auch den ideologiekritischen Jungtürken, galten bundesdeutsche Filme von jeher für bieder und gestrig, hastig hingepfuscht oder verstaubt inszeniert von politisch zweifelhaften Routiniers der Ufa-Schule, im internationalen künstlerischen Vergleich hoffnungslos abgehängt, etwa von den kinematographischen Entwicklungen in Italien, Polen oder Japan. Einzelne sehenswerte Werke, von Käutner, Tressler oder Wicki, bildeten danach die Ausnahmen, die die Regeln bestätigten. 1961 veröffentlichte der Journalist Joe Hembus sein Pamphlet »Der deutsche Film kann gar nicht besser sein«, während Walther Schmieding sich unter dem Titel »Kunst oder Kasse« den »Ärger mit dem deutschen Film« von der Seele schrieb, 1962 widmeten Enno Patalas und Ulrich Gregor in ihrer »Geschichte des Films« dem Kino der Ära Adenauer gerade einmal anderthalb Seiten, im gleichen Jahr erklärten 26 Nachwuchsfilmemacher »Papas Kino« für tot. Es dauerte fast 20 Jahre, bis die Gruft geöffnet und das bundesdeutsche Nachkriegskino Gegenstand interessierter – und differenzierter – filmkritischer Betrachtungen wurde: Ulrich Kurowski gab ab 1979 die dreiteilige Materialsammlung »nicht mehr fliehen« heraus, 1980 erschien Christa Bandmanns und Joe Hembus’ »Klassiker des deutschen Tonfilms«, 1987 Claudius Seidls »Der deutsche Film der fünfziger Jahre«, 1989 schließlich, begleitend zu einer Ausstellung über den westdeutschen Nachkriegsfilm im Frankfurter Filmmuseum, der umfangreiche Katalogband »Zwischen gestern und morgen‬«. Einer von jenen, die eine »neue Sicht« auf das Thema eröffneten, war der Psychologe Gerhard Bliersbach mit seinem 1985 publizierten Buch »So grün war die Heide«. Bliersbach erzählte, indem er rund ein Dutzend der bekanntesten Heimat-, Lustspiel-, Kriegs- und Kriminalfilme mit den Mitteln seines Fachs – sehr anschaulich und unterhaltsam – sezierte, eine Mentalitätsgeschichte der jungen Bundesrepublik, er verdeutlichte, am Beispiel von Figuren wie Lüder Lüdersen oder des Gefreiten Asch, von Kaiserin Sissi oder Professor Sauerbruch, die Seelennöte und Schuldgefühle, die Wünsche und Ängste der frischgebackenen Bundesbürger zwischen Nazi-Vergangenheit und Wirtschaftswunder. Mit »Nachkriegskino«, einer »Psychohistorie des westdeutschen Nachkriegsfilms« schließt Bliersbach an das Vorgängerwerk an und erweitert sein Untersuchungsfeld auf etwa 50 Filme aus dem Jahren zwischen 1946 und 1963. Die fünfziger Jahre erscheinen dabei nicht als erstarrte Epoche der Restauration, sondern als bewegte Zeit eines »existenziellen Ringen[s] um die Modifikation und Integration der deutschen Identität in die bundesdeutsche, westdeutsche Identität«. Unter Kapitelüberschriften wie »Beschädigungen«, »Reparaturen«, »Rechtfertigungen«, »Ausbrüche«, »Abrechnungen« forscht Bliersbach dem filmischen Widerhall dieses Transformationsprozesses nach, expliziert die Echos von Traumatisierung und Kränkung, von Schande und Verbrechen, von Beschämung und Selbstschutz. Die Analyse beginnt, nicht ganz konsequent, mit Wolfgang Staudtes »Die Mörder sind unter uns«, der als erster deutscher Nachkriegsfilm unter sowjetischer Lizenz bei der östlichen Defa entstanden war, und endet mit Harald Reinls deutsch-amerikanischem Versöhnungsmärchen »Winnetou«. Um enzyklopädische Vollständigkeit ist es Bliersbach offenkundig nicht zu tun – auf Melodramen geht er so wenig ein wie auf die Exploitationfilme eines Wolf C. Hartwig, fast unbeachtet bleiben Revuefilme und die Werke der (wenigen) Remigranten, im Namensregister fehlen unter anderem Maria Schell und O. W. Fischer, Fritz Lang und Gerd Oswald –; seine persönliche Auswahl konzentriert sich auf jene Filme, deren Schöpfer, zumeist unfreiwillig, Auskunft geben über Fragen von Schuld und Verantwortung in der nationalsozialistischen Gesellschaft, über die psychosozialen Erschütterungen der Nachkriegszeit, über die allmähliche Ausprägung eines bundesrepublikanischen Selbstverständnisses. Bliersbach, der sein (keinesfalls argloses) Vergnügen an vielen der beschriebenen Filme sympathischerweise nicht verhehlt, zieht Verbindungslinien von der Lüneburger Heide ins London der Edgar-Wallace-Reißer, von den Kasernenhöfen der Wehrmacht ins Land der Mescalero-Apachen, er entwickelt seine Hypothesen lesbar und schlüssig, so schlüssig, daß fast der Eindruck entstehen könnte, die Autoren und Regisseure des westdeutschen Nachkriegskinos hätten, freilich unbewußt, gemeinschaftlich an einer großen, wenn auch einigermaßen verdrucksten Erzählung gearbeitet.

15. Mai 2014

Zwischen Zeiten, zwischen Welten

Die Spielfilme von Thomas Brasch

Thomas Brasch, Lyriker, Prosaist, Stückeschreiber und Filmemacher, wurde 1945 als Sohn deutscher Emigranten in England geboren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging die jüdische Familie in die sowjetische Besatzungszone. Der Vater, Horst Brasch, machte Karriere als SED-Funktionär, brachte es bis zum stellvertretenden Kulturminister der DDR, während sein ältester Sohn immer wieder in Konflikt mit dem realsozialistischen System geriet: Ein Journalistikstudium in Leipzig mußte Thomas Brasch aufgrund kritischer politischer Äußerungen beenden; wegen einer Protestaktion gegen die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts wurde er von der Babelsberger Filmhochschule relegiert und zu einer Haftstrafe verurteilt. Es folgte die obligatorische »Bewährung in der Produktion«, anschließend lebte und arbeitete Thomas Brasch als freier Schriftsteller. Eine Nummer der Lyrikheft-Reihe »Poesiealbum« blieb seine einzige Veröffentlichung im Osten Deutschland. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 verließ Thomas Brasch zusammen mit seiner Lebensgefährtin Katharina Thalbach die DDR. Er lebte fortan in Westberlin, wo auch seine drei Spielfilme entstanden. 


1981 | »Engel aus Eisen«

»Lieber Gott, erspar mir, in einer uninteressanten Zeit zu leben.« Am 10. November 1950 starb der 19jährige Berliner Bandenchef Werner Gladow in Frankfurt/Oder unter dem Fallbeil. Der jugendliche Verbrecher, der Al Capone zu seinem Vorbild erkoren hatte und schon zu Lebzeiten eine Legende war, wurde immer wieder zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung: Erich Loest verarbeitete die Ereignisse in seinem Roman »Die Westmark fällt weiter«, Christa Reinig verewigte den Fall in der »Ballade vom blutigen Bomme«. Der Dichter Thomas Brasch schöpft frei aus dem historischen Faktenmaterial, erzählt das Treiben der berüchtigten Bande als elegisches, symbolisch aufgeladenes Gangster-Märchen in traumhaft klarem Schwarzweiß: die Trümmer, die Stadt und der Tod. Das zerstörte Berlin, von den zerstrittenen Siegern des Weltkriegs geteilt, liegt im heißen Sommer 1948 unter dem Motorenlärm der Luftbrücke. Unaufhörliches Dröhnen der Flugzeuge, dazu Schwarzmarkt, Stromsperren und intersektorales Behördengerangel – ideale Bedingungen für jede Form von krimineller Aktivität. Gladow, ein unerbittliches Milchgesicht (Ulrich Wesselmann), das auch schon mal auf der Guillotine probeliegt, und seine Spießgesellen, darunter der ehemalige Henker Gustav Völpel (Hilmar Thate), nutzen die Gunst der Stunde: zuerst Schleichhandel und Straßenraub, später bewaffnete Überfälle. »Engel aus Eisen« verweigert die klassische Spannungsarchitektur des Genres, groovt sich – vor allem kraft Walter Lassalys grafisch stilisierter, oft geheimnisvoll entvölkerter Bilder – in einen sehr eigenwilligen, somnambulen Rhythmus. Brasch schaut mit zärtlicher Distanz auf eine zerrüttete Gesellschaft zwischen totaler Niederlage und Angst vor einem neuen Krieg, auf kaputte Menschen zwischen kläglicher Desillusion und trotziger Selbstbehauptung. »Berlin ist nicht Chicago!« ruft nach Gladows Verhaftung die empörte Volksmenge. Stimmt wahrscheinlich, aber man kann es ja mal versuchen: »Der Tote mit aufgerissenem Auge / hat weiße Strümpfe an. / Die Straße liegt still, ein heller Morgen: / So fangen die schönsten Tage an.«

1982 | »Domino«

»Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht.« Zwölf Tage im Winter, zwölf Tage in Westberlin. Vorweihnachtlicher Trubel, Lichterglanz in nächtlichen Straßen. Am 20. Dezember setzt Lisa (Katharina Thalbach) ihre kleine Tochter in den Zug. Die kommenden Feiertage will die junge Schauspielerin in aller Ruhe verbringen. Ins Museum gehen, die Zieheltern besuchen, lesen, schlafen. Es kommt freilich ganz anders: Am Bahnhof erzählt ein Passant von »Nervenheilanstalten für welche, die das privatkapitalistische System nicht mehr aushalten«, warnt vor kommendem Krieg, später blockiert ein unverriegeltes Türschloß, in der Folge verliert Lisas Leben allmählich den Takt, ihre (Gedanken-)Welt gerät mehr und mehr aus den Fugen, am 1. Januar sitzt sie, mutterseelenallein, im verschneiten Grunewald, sieht einem Zug von Arbeitslosen nach, die in die Südsee deportiert werden sollen … Zwischen den Jahren fällt die Schauspielerin aus der Rolle, läßt sich treiben, begegnet einem abgehalfterten Theaterregisseur (Bernhard Wicki) und einem reisenden Schriftsteller, einem orientierungslosen Kohlenmann und zwei unternehmungslustigen Nutten, schläft mit einem Zufallsbekannten, spielt Domino mit ihrer toten Mutter. Wie Dominosteine legt Brasch Szene an Szene, und als würde es ihm im Laufe des Spiels immer gleichgültiger, ob die Steine aneinanderpassen, löst er, parallel zur wachsenden Verwirrung seiner Protagonistin, den logischen Sinnzusammenhang zwischen den Episoden auf, schafft Raum für Assoziationen, Träume, Erinnerungen – bis Lisa eines Abends die Vorstellung schmeißt, sich langsam abschminkt, das Theater verläßt, einfach weggeht, ohne zu wissen wohin. Gesellschaftliche Ängste und persönliche Krisen, poetisch überhöht, tödlich verzaubert vom Schnee, der die gewohnten Geräusche dämpft, der das Leben »auffallend verlangsamt, als zögerte es weiterzugehen oder wollte seine Richtung ändern. Es mag sein, daß einem in dieser Zeit leichter ein Unglück zustößt« (Robert Musil)

Ergänzend zu »Engel aus Eisen« und »Domino«, die in rascher Folge entstanden waren, plante Thomas Brasch die Realisierung des Mittelstücks einer Berlin-Trilogie. »Das Fest der Besiegten« hätte an einem einzigen Tag, dem 17. Juni 1953, gespielt und die Geschichte zweier rivalisierender Halbbrüder erzählt: Robert wird von aufständischen Arbeitern aus einem Gefängnis in Ostberlin befreit und geht auf die Suche nach Georg, der sich mit dem erbeuteten Geld aus einem gemeinsam begangenen Einbruch eine neue Existenz im Westteil der Stadt aufgebaut hat. Das »große Panorama«, das die historischen Ereignisse im Spiegel privater Konflikte (und umgekehrt) als Abfolge von dramatischen Episoden und aufwendigen Massenszenen dargeboten hätte, das »Epos über Geschichte, Auflehnung, Hoffnung und Verwirrung«, mit Giulietta Masina, Maria Schneider, Gene Hackman und Max von Sydow in Thomas Braschs Vorstellung international besetzt, wurde nicht gedreht. Auch »Der Liebesfall«, eine leicht surreale Romanze über einen jungen Mann, der Luxusautos überführt und einer verführerischen Wegelagerin verfällt, blieb unverwirklicht. Für das niederländische Fernsehen inszenierte Thomas Brasch 1984 sein eigenes Theaterstück »Mercedes«, vier Jahre später folgte sein dritter und letzter Spielfilm.

1988 | »Der Passagier – Welcome to Germany«

»Schlafwandler überall.« Aus Hollywood kommt der erfolgreiche Regisseur Cornfield (Tony Curtis) nach Berlin, um ein Herzensprojekt zu realisieren. Es beschreibt die Erlebnisse einer Gruppe von 13 Juden, darunter die ungleichen Freunde Baruch und Janko (Birol Ünel und Gedeon Burkhard), die 1942 aus einem Konzentrationslager geholt wurden, um Komparsenrollen in einem antisemitischen Propagandafilm des Spielleiters Körner (Matthias Habich) zu übernehmen. Nach den Dreharbeiten, so wurde den Häftlingen zugesichert, könnten sie alle in die Schweiz ausreisen. Das Versprechen erweist sich als Lüge. Baruch und Janko denken an Flucht, aber nur einer von beiden wird überleben. Es dauert nicht lange, bis klar wird, daß es Cornfields eigene Geschichte ist, die nach und nach filmische Gestalt annimmt … Inspiriert von einer tatsächlichen Begebenheit – Veit Harlan ließ für seinen Film »Jud Süß« Statisten aus einem polnischen Ghetto herbeischaffen – porträtieren Thomas Brasch und sein Koautor Jurek Becker einen Mann, der sich einer alten Schuld stellen will, jedoch unfähig ist, der schrecklichen Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Was zunächst wie die publikumswirksame Melodramatisierung eines heiklen Themas durch einen Mainstream-Regisseur wirkt, erweist sich letzten Endes als klitternde Schönfärberei, als doppeltes menschliches Versagen: auf den ersten, realen Verrat am Freund folgt der zweite, künstlerische. Nicht ungeschickt schiebt Brasch die Zeitebenen der Erzählung ineinander, macht eindrucksvoll Parallelen zwischen Studio und Lager sichtbar, doch wie der Antiheld Cornfield, dessen Gestaltungskraft von den Gespenstern des früheren Lebens immer stärker gelähmt wird, versinkt auch sein Schöpfer zunehmend in Konfusion und Unsicherheit. Die Inszenierung verliert sich in visuell abgedroschenen Visionen, eine Nebenfigur liefert in einem papiernen Monolog die erwartbare Auflösung des biographischen Rätsels. »Destroy it«, sagt Cornfield nach Abschluß der Dreharbeiten frustriert zu seinem Assistenten. Bei aller formalen Unausgewogenheit ist »Der Passagier« ein interessanter Versuch über Kunst und Wahrheit, über Schuld und Scham, über Verdrängung und die Illusion, Vergangenheit »bewältigen« zu können.

Nach Mauerfall und Wiedervereinigung hatte Thomas Brasch keine Gelegenheit mehr zur Verwirklichung seiner Filmprojekte. Gleichwohl entwickelte er weiterhin Stoffe für Spielfilme und Fernsehserien: »Liebe oder Polizei«, eine Komödie über einen Volkspolizisten, der nach der Wende erst zum Kaufhausdetektiv wird, dann zum erfolgreichen Kriminellen, dann wieder zum braven Gesetzeshüter; »Nathans Wiederkehr« über die Abenteuer eines mehr oder weniger freiwilligen Spitzels im Theater des Jüdischen Kulturbundes während des Zweiten Weltkriegs; »Fräulein Kuckuck« über die skurrilen Erlebnisse einer Gerichtsvollzieherin. 2001 ist Thomas Brasch in Berlin gestorben.

Zu »Engel aus Eisen« und »Domino« erschienen begleitende, umfangreich bebilderte Filmbücher im Suhrkamp Verlag. Die Treatments zu den nicht realisierten Projekten wurden erstmals 2004 im »Arbeitsbuch Thomas Brasch« der Zeitschrift »Theater der Zeit« veröffentlicht. Alle Filme von Thomas Brasch sind in einer DVD-Box der Filmedition Suhrkamp versammelt.

5. Mai 2014

Look at all the lonely people

DVD | »Talking Heads« von Alan Bennett (1988/1998)

»Sprechende Köpfe« gelten in fiktionalen Formaten des Fernsehens weithin als Inbegriff des visuellen Stumpfsinns und der banalen Geschwätzigkeit: Gesprochen wird, wenn nichts zu zeigen ist. Alan Bennetts BBC-Serie »Talking Heads«, die – noch dazu in Form von Monologen! – nichts anderes bietet, als der Titel erwarten läßt, verwandelt die vermeintliche inszenatorische Un-Attraktion, mittels ironisch-tieflotender Texte und brillanter Darsteller, in delikate Bildschirmkunst. In zwei Staffeln à sechs Folgen (deren jeweilige Länge zwischen 30 und 45 Minuten schwankt) gewährt Bennett Einblicke in die Welt des kleinen und mittleren (nordenglischen) Bürgertums, läßt zwölf Personen aus ihrem Leben erzählen, aus einem Alltag, der unversehens Deformationen, Schrecken und Absurdität enthüllt. Intimität und Konzentriertheit der Stücke finden ihre gestalterische Entsprechung in den aufs Wesentliche reduzierten Dekorationen, im sparsamen Einsatz von Musik und Kamerabewegungen, im meisterlichen Underplay der Schauspielerinnen und Schauspieler. Da ist zum Beispiel der alternde Graham (Alan Bennett), dessen geistig leicht verwirrte Mutter von einem früheren Verehrer umschwärmt wird, der den Sohn aus dem Haus drängen will (»A Chip in the Sugar«); Irene (Patricia Routledge), deren einziger Kontakt zur Welt die anonymen Brief sind, mit denen sie die Nachbarschaft terrorisiert, erlebt wahre Freiheit erst im Gefängnis (»A Lady of Letters«); Susan (Maggie Smith), eine alkoholkranke Pfarrersfrau, findet vorübergehend Trost in den Armen eines jungen indischen Lebensmittelhändlers (»A Bed Among the Lentils«); Muriel (Stephanie Cole), muß nach dem Tod ihres Gatten nicht nur erleben, wie der nichtsnutzige Sohn das Erbe vernichtet, sie realisiert auch häßliche Details aus der Familiengeschichte (»Soldiering On«); die Schauspielerin Leslie (Julie Walters), die mit einem lange zurückliegenden Kurzauftritt bei Polanski renommiert, lügt sich ihre Rolle in einem (deutschen!) Softporno schön (»Her Big Chance«); Doris (Thora Hird), eine nörgelnde Seniorin mit Sauberkeitswahn, sieht sich von der Wohlfahrt in Gestalt einer nachlässigen arabischen Hauspflegerin gedemütigt (»A Cream Cracker under the Settee«). Trotz aller Anpassung und Disziplin werden die tapfer-traurigen Protagonisten zu Zeugen der Auflösung ihrer mühsam gehegten Ordnung: Nebensätze, Atempausen, insistierende Blicke deuten die stillen Katastrophen an. In der zweiten Staffel der Serie, zehn Jahre nach der ersten entstanden, wirken die geschilderten Schicksale düsterer, der Humor schwärzer. Miss Fozzard (Patricia Routledge), mit der Pflege eines schwerkranken Bruders belastet, erhält Verständnis (und finanzielles Zubrot) von einem fetischistischen Fußpfleger (»Miss Fozzards Finds Her Feet«); die gewinnsüchtige Antquitätenhändlerin Celia (Eileen Atkins) läßt sich den Fund ihres Lebens durch die Lappen gehen (»The Hand of God«); Wilfred (David Haig), ein therapierter Kinderschänder, erliegt erneut der Versuchung seiner Dämonen (»Playing Sandwiches«); Marjory (Julie Walters) hält ihr Heim in aseptischer Reinlichkeit und begreift, daß ihr Mann nicht nur ein Hundefreund sondern auch ein Serienmörder ist (»The Outside Dog«); Rosemary (Penelope Wilton), unglücklich verheiratet und subtil unterdrückt, erblüht in der kurzen Freundschaft zu einer Nachbarin, die ihren repressiven Gatten getötet hat (»Nights in the Gardens of Spain«); Violet (Thora Hird), die älteste Bewohnerin eines Seniorenheims, erwartet den Geburtstagsgruß der Queen, während sie an jenes königliche Telegramm zurückdenkt, das ihr den Tod eines geliebten Menschen auf dem Schlachtfeld verkündete (»Waiting for the Telegram«). Es sind minimalistische Sittenbilder, die Bennett ohne jede Sentimentalität ausbreitet, herzbewegende, fatale, kuriose Episoden über soziale Vereinsamung und seelische Not, dramödiantische Fälle von menschlicher Sprachlosigkeit, die ihr Ventil in intensiven Selbstgesprächen findet. Naivität ist den »Talking Heads« dabei nicht zu unterstellen: Sie alle wissen nur zu gut, welch bizarrer Wirklichkeit sie mit blumigen Umschreibungen und aparten Euphemismen einen Anschein von Normalität zu verleihen suchen.