5. Oktober 2012

Jenseits von Afrika

Kino | »Tabu« von Miguel Gomes (2012)

Aurora hatte eine Farm in Afrika. Nicht am Fuße der Ngong-Berge sondern am Fuße des Mont Tabu. Sie war eine stolze, eine schöne, eine leidenschaftliche Frau. Aber das erfährt man erst in der zweiten Hälfte des Films. Anfangs ist Aurora eine stolze, eine verbitterte, eine leicht verwirrte Alte, die in einem seelenlosen Apartmentblock am Rande von Lissabon lebt, die von Affen träumt, die ihr Geld regelmäßig im Casino verspielt, die ihrer stoischen schwarzen Hausangestellten Santa zur Last fällt, die das Mitleid ihrer helfersyndromatischen Nachbarin Pilar erregt. Ganz zu Beginn der Fabel, noch bevor man Aurora in ihrem weichgepolsterten Elend kennenlernt, geht Pilar ins Kino. Der Film zeigt einen traurigen Forscher, der das dem weißen Mann noch unbekannte Afrika durchstreift. Der Forscher ist traurig, weil seine Frau gestorben ist. Die Tote erscheint dem traurigen Forscher als Geist. Der traurige Forscher stürzt sich in den Fluß und läßt sich von einem Krokodil fressen. Das nunmehr traurige Reptil und der ruhelose Geist der Toten werden zu legendären Figuren in der Mythologie der Eingeborenen. Später, nachdem mit geduldiger Gleichmut und staubtrockener Ironie (unter der Kapitelüberschrift »Vertreibung aus dem Paradies«) einige Tage aus dem tristen Leben von Aurora, Santa und Pilar geschildert wurden, kehrt »Tabu« nach Afrika zurück, und es folgt eine zweite, ungleich dramatischere (Vor-)Geschichte: »Paradies«. In einer Rückblende entfaltet sich vor exotischer Kulisse, ohne Dialoge aber mit hörspielhaften Geräuschen, durchdacht-deplazierten Swingklängen und einem romanesken Off-Kommentar, die so unbändige wie unglückliche Romanze zwischen der verheirateten Plantagenbesitzerin Aurora und dem attraktiven Glückritter und Frauenheld Ventura. »Tabu«, eine kühne Produktion in schwarzweißem Normalbild, läßt sich auf vielerlei Weise goutieren: als virtuoses Spiel mit Genremotiven und den formalen Mitteln der Kinematographie, als süffisantes Portrait des alten Europa (am Beispiel Portugals), das in dünkelhafter Verarmung seinen großen Zeiten nachtrauert, in die es sich einst auf dem krummen Rücken der Kolonien hatte tragen lassen, und nicht zuletzt als üppig wucherndes, hintergründiges Erzählabenteuer – wobei es dem bild- und sprachmächtigen Fabulierer Miguel Gomes neben dem Erzählen von Abenteuern auch und vor allem um das Abenteuer des Erzählens geht.

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