4. Juni 2012

La vie est un court-métrage

Kurzfilme von Alain Resnais

1948 | »Van Gogh«

»Il faut peindre, peindre le tourbillon du monde, mais le monde tourne si vite.« Die Sonne, der Wahnsinn, der Tod. Das Leben eines Malers, erzählt in seinen Gemälden. Gemälde, die das Leben ihres Malers erzählen. Vincent van Goghs brennender Glaube. Seine unerwiderte Liebe zu den Menschen. Seine besessene Suche nach neuen Ausdrucksformen. Die äußeren Stationen dieser Jagd: Holland – seine Tristesse und seine Stille; Paris – seine Versprechungen und seine Härte; die Provence – ihre Glut und ihre Nacktheit; schließlich die Isolation einer Nervenklinik, ein beschaulicher Ort der Île-de-France, ein freies Feld im Regen … Die Kamera zeigt beinahe nie die Gesamtheit eines Bildes, wählt fast immer prägnante Ausschnitte, schafft dadurch dramatische Einblicke in eine zerklüftete Seelenlandschaft. Das Werk van Goghs als livre d’images, als Stoff für eine graphic novel in ergreifender Bewegung.

1950 | »Paul Gauguin«

»Je veux être heureux et celui là seul l'est qui est libre.« Nach demselben gestalterischen Prinzip seines Films über van Gogh inszeniert Resnais eine Kurzbiographie des Künstlers Paul Gauguin, der um der Malerei willen Heim und Familie verließ. Den melancholischen Text, der die Bilder von Menschen und Landschaften zum Leben erweckt, liefert der Portraitierte selbst: Ausschnitte aus Briefen, die von Hunger, Einsamkeit und Armut, von Sehnsucht nach Freiheit, Willen zur Einfachheit und Zweifel am Opfer sprechen. Gauguins Lebensreise führt von Paris (»un désert pour l'homme pauvre«) in die Wildheit der Bretagne und weiter ins ersehnte Paradies: Tahiti. Hier in der Südsee, inmitten von Vergnügen und Blumen, von Liebe und Spiel, erschafft der sterbende Maler sein letztes, unvollendetes Bild: die Ansicht eines bretonischen Dorfes im Schnee. Und plötzlich, zum ersten (und einzigen) Mal, löst sich die Kamera aus der malerisch-biographischen Innenschau, fährt zurück, immer weiter zurück, bis ein Gemälde an der Wand eines Museums hängt.

1950 | »Guernica«

»Quelque part en Europe, une légion d'assassins écrase la fourmilière humaine.« Konsequente Fortsetzung einer Methode und radikaler Bruch zugleich: In »Guernica« montiert Resnais wiederum ausschnitthafte Ansichten aus dem Schaffen eines Malers zu einer furiosen Bilderfolge, läßt daraus aber nicht die Biographie des Künstlers erstehen, sondern rekapituliert ein historisches Ereignis. Picassos Werke schildern die Zerstörung der baskischen Stadt Gernika durch die deutsche Luftwaffe im Spanischen Bürgenkrieg. Die filmische Auflösung des berühmten Kolossalgemäldes bildet den Höhepunkt des kinematographischen Passionsgeschichte: die symbolische Darstellung der eigentlichen Bombardierung. Der pathetische Text Paul Éluards und der feierliche Vortrag von Maria Casarès klagen über unendliches Leid in einer heillosen Welt; die Zergliederung der Bilder in fetzenhafte Details, die Dekonstruktion des Materials in expressive Ausschnitte evozieren die Vision des Untergangs eines Gemeinwesens, einer Kultur, einer Zeit. Daß die verbrecherische Grausamkeit bald schon auf die Täter selbst zurückfallen wird, ist dabei kein Trost

1953 
| »Les statues meurent aussi« (»Auch Statuen sterben«) mit Chris Marker

»Quand les hommes sont morts, ils entrent dans l’histoire. Quand les statues sont mortes, elles entrent dans l’art.« Ein gedankenwindungsreicher, bilderströmender Essay über die Spuren, die Zivilisationen im Sand der Zeit hinterlassen, über das Sehen und wie es den betrachteten Dingen seinen Stempel von Bedeutung aufdrückt, über die verlorene Einheit von Mensch und Kosmos, über Schwarz und Weiß, über die Rätsel der Geschichte und die Demütigungen des Kolonialismus. Und, vor allem, über afrikanische Kunst – betrachtet von den Augen der Weißen: ein heimatloses Volk pittoresker Figuren, menschengemachte Objekte, die aus ihrem spirituellen oder gebrauchsgegenständlichen Sinnzusammenhang gefallen sind (oder gerissen wurden), ihres Stolzes beraubte Zeugen einer versunkenen Kultur, exotische Gefangene in den Museumsvitrinen der westlichen Welt. Die Kamera läßt die toten Seelen der Statuen noch einmal lebendig werden, dem Zuschauer naherücken, läßt sie erzählen, auch wenn sie eine unbekannte Sprache sprechen. Bei aller Melancholie bleibt eine Hoffnung auf das Überwinden von Bevormundung und Fremdheit, auf eine Schule des Blicks, die lehrt, uns im anderen zu erkennen.

1955 
| »Nuit et brouillard« (»Nacht und Nebel«)

»Premier regard sur le camp:
 C’est une autre planète.« Kein Film über die nationalsozialistische Weltanschauung. Kein Film über Antisemitismus. Ein Film über die industrielle Vernichtung von Menschen. Ein Film über die Mechanik und das Mysterium des Bösen. Dabei kein abstrakter Film ohne historische Verortung. Dabei ein konkreter Film voller erschütternder Details. Keine Dokumentation. Literatur. Keine Reportage. Kunst. 1933. 1942. 1945. Belsen. Dachau. Auschwitz. Die Tat: historische Bilder des Geschehens. Schwarz-weiß. Anschauungsmaterial aus einer immerwährenden Gegenwart. Wachtürme. Züge. Schergen. Todgeweihte. Zyklon B. Berge von Haaren, Köpfen, Leibern. Die Erinnerung: Bilder des historischen Ortes. Farbe. Langsame gleitende Fahrten entlang der unbegreiflichen Vergangenheit. Das Gras zwischen den Schienen. Elektrische Zäune ohne Strom. Kratzspuren im Beton. Betten aus Backstein. Latrinen. Öfen. Schornsteine. Und die schreckliche Gewißheit: Jede Straße kann in ein Konzentrationslager führen.

1956 
| »Toute la mémoire du monde« (»Alles Gedächtnis der Welt«)

»Parce que leur mémoire est courte, les hommes accumulent d’innombrables pense-bêtes.« Ein Traktat über die imposante Technik und den leisen Schrecken der Erinnerung – Erinnerung an das, was Menschen gedacht, formuliert, aufgezeichnet haben. Die Pariser Bibliotèque Nationale als gebautes Gedächtnis, als strukturiertes Sammelsurium, als einerseits vielstimmiges, andererseits lautloses Silo des Weltwissens. Die Kamera gleitet durch Gänge, durch Säle, durch Lager. Vorbei an Regalen, Regalen, Regalen. 100 Kilometer voll mit Büchern und Akten, mit Zeitungen und Folianten, mit Manuskripten und Comics, mit Tonnen und Abertonnen von bedrucktem und beschriebenem Papier, aber auch mit Münzen und Globen, mit Graphiken und Photographien. Die Bibliothek – ein Depot, ein Zettelkasten, ein Festung der Ideen und der Fiktionen, der Dokumentation und der Phantasie.

1958 | »Le chant du styrène«

»On lave et on distille et puis on redistille, / et ce ne sont pas là exercices de style.« Der Weg des Kunststoffs vom farbenfrohen Endprodukt zurück zur naturtrüben Materie, von der objekthaften Konkretisation – Schöpfkelle, Tennisschläger, Badewanne – hinab (oder hinauf?) ins erdgeschichtliche Mysterium: »Ô matière plastique! / D'où viens-tu? Qui es-tu?« In ridikül-hochtönenden Alexandrinern textet sich Raymond Queneau von der knallroten Plastikschüssel auf dem Frühstückstisch der Moderne zum geheimnisvollen Ursprung der fossilen Rohstoffe Kohle und Öl. Alain Resnais folgt der gespreizten sprachlichen Erkundungsreise mit eleganten Dyaliscope-Travellings durch den Maschinenpark und das Röhrengewirr des science-fiktional wirkenden Chemiewerks Pechiney bis in den obskuren Nebel der Schöpfung. Das Hohelied des Plastiks – eine ironische Stilübung zwischen popartiger Technikbegeisterung und manirierter Fortschrittsveralberung.

4 Kommentare:

  1. Klingt alles sehr interessant. Von diesen Filmen kenne ich nur zwei, nämlich NUIT ET BROUILLARD und TOUTE LA MÉMOIRE DU MONDE. Während man ersteren natürlich nicht "genießen" kann, aber trotzdem mal gesehen haben sollte, finde ich letzteren sehr erbaulich. Mit seinen gravitätischen Kamerafahrten (und auch ein bisschen mit seinem Thema) weist er schon etwas auf LETZTES JAHR IN MARIENBAD voraus.

    Bei deiner Beschreibung von LE CHANT DU STYRÈNE hatte ich eine (vielleicht abwegige) Assoziation zu Dsiga Wertow (der in seinen Filmen den Fortschritt nicht veralbert, sondern gefeiert hat). In Wertows KINO-AUGE (1924) gibt es zwei Sequenzen, in denen ein Brot beim Bäcker über Teig und Mehl zurück zum Getreide auf dem Feld "entbacken" bzw. ein Stück Fleisch beim Metzger zurück zur Kuh auf der Weide "entschlachtet" wird.

    Pierre Braunberger, der fünf dieser Filme produzierte, scheint ein Händchen für neue Talente gehabt zu haben. In den 20er und frühen 30er Jahren hatte er schon ein paar Frühwerke von Renoir produziert.

    Hast Du das Kinotagebuch jetzt eigentlich ganz aufgegeben, oder muss man das noch im Auge behalten?

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  2. Die Kamerafahrten sind ja, beginnend mit den Fahrten durch die KZ-Ruinen in »Nuit et brouillard«, ein Lieblingsstilmittel von Resnais. Auch in »Le chant du styrène« gleitet die Kamera langsam durch die Szenerie. (Hier zum ersten Mal im Scope-Format, das die Bewegung noch eindrucksvoller macht.) Wertow ist, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, immer noch ein weißer Fleck auf der Karte meiner Filmrezeption. Das muß anders werden. :)

    Das Projekt KinoTageBuch habe ich eigentlich ganz und gar nicht aufgegeben. Aber ich fürchte, daß die (mittlerweile nicht mehr ganz so) neue Bedienungsoberfläche von Blogger mir eine Fortführung bei diesem Anbieter nicht gestattet. Ich denke, ich werde das ganze Geraffel demnächst in einen WordPress-Blog transferieren bzw. neu aufsetzen. (Als ob man sonst nichts zu tun hätte.)

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  3. Nanu: Zuerst fügst Du bei einigen alten Artikeln Bilder hinzu, und jetzt machst Du auf einmal das Gegenteil ...

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    1. Ja, ich habe alle Bilder im Blog (vorerst) gelöscht. Bin mir einfach unsicher bei der Veröffentlichung von »geliehenem« Material.

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